Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
wütende Tumult. Patricks Kesselpauken dröhnten unter seinen wilden, aufwiegelnden Schlägen.
»Das Seil ... das Seil!« kreischte Lello mit weit aufgerissenem Mund. Mit der rechten Hand zeigte er immer wieder ruckartig nach oben. »Sie wollen fliehen ... alle fliehen!«
Guntram biß die Zähne zusammen. Er sah, wie zwei verschlagen wirkende Gestalten um die Gruppe der Clan-Chefs herumschlichen. Der eine war hochgewachsen und dürr, der andere sah wie sein feister Knecht aus.
»Paßt auf!« schrie Mathilda.
Guntram faßte Agnes um die Taille. Er drehte sie und nahm sie auf den Rücken.
»Ed! Severino!« brüllte Corvays Berater Hector. »Laßt sie nicht entkommen!«
Guntram holte tief Luft. Er packte das straff gespannte Seil. Die anderen ließen gleichzeitig los. Die Schlaufe am Ende des Seils riß ein paar Männer um. Meister Wirnt wurde bis zum Rand des Bohlentischs geschleift. Im letzten Augenblick konnte er sich befreien, aber da waren Ed Jankowski und Severino bereits neben ihm.
Während Guntram und Agnes zum Taubenloch hinüberschwangen, schrien die Frauen der Schander-Familien entsetzt auf. Nur zwei Bankerts waren dicht genug an Meister Wirnt. Sie hätten ihn festhalten können, doch da geschah das Unfaßbare:
Die beiden Männer aus dem engeren Gefolge von König Corvay stießen Wirnt gemeinsam über die Kante ...
In diesem Augenblick zerriß das letzte Band der Gemeinsamkeit, das es bisher vielleicht noch zwischen Schandern und Bankerts gegeben hatte ...
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1 Er kann nichts vollbringen, wenn er nicht glaubt, es zu können.
5. KAPITEL
Goetz von Coburg steuerte den Gabelstapler über die breiten Stufen vor dem Hauptportal der Kathedrale. Er hatte mehrere Stunden in fiebriger Erschöpfung verbracht. Nicht richtig wach, aber auch nicht fähig, in einen heilsamen Schlaf zu fallen, hatte er neben dem Leichnam von Padre gelegen.
Wahrscheinlich war es der Verwesungsgeruch gewesen, der ihn schließlich veranlaßt hatte, wieder auf den Gabelstapler zu steigen.
Er wußte nicht, warum er die vertrauten Räume des Verlages verlassen hatte. Erst jetzt, auf den Stufen zum Hauptportal der Kathedrale, wachte er richtig auf ...
Er hielt den Gabelstapler an. Sein Stöhnen war der einzige Laut in der unheimlichen Stille. Nichts regte sich um ihn herum. Die Sonne stand schräg am blauroten Westhimmel. Goetz fürchtete sich plötzlich vor ihrem unwirklichen Licht. Es war, als würde ihn der ferne Glutball wie das Auge Gottes beobachten ...
Weiter hinten, in den menschenleeren Straßenfluchten, wanderten die dunklen Schatten der Kathedrale Zentimeter um Zentimeter weiter nach Osten. Sie sahen wie ein mächtiges, vielfach gezacktes Dunkeltier aus, das über die Häuser und durch die Straßen kroch.
Goetz blickte nach oben. Instinktiv suchte er nach einem Rest von Ordnung, Harmonie und Proportionen in einem Kosmos, der seinen Sinn verloren hatte.
Die Schwibbögen, Strebepfeiler, Filigransteingitter und Säulen übten eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn aus. Er hatte die Dome von Amiens und Köln, Chartres und Bamberg gesehen. Er kannte Straßburg, Orvieto und Reims, doch diese Kathedrale war die größte und schönste von allen ...
Der Gabelstapler summte leise, als er in das hohe Kirchenschiff rollte. Goetz nahm die Fahrtgeschwindigkeit unwillkürlich zurück. Aus den gewaltig aufragenden Fenstern waren nur an einigen Stellen ein paar bunte Scheiben ausgebrochen. Es war, als hätte das Mittelschiff überhaupt keine waagerechten Begrenzungen, um immer höher und höher zu streben.
Die Bündel aus Halb- und Dreiviertelsäulen ragten wie aneinandergeklebte, aus Stein geschnitzte Baumstämme nach oben, ehe sie sich zur hohen Mitte hin neigten und in vollkommener Harmonie mit Kreuzsteinen über den Gewölbebögen vereint wurden.
Der gesamte Innenraum der Kathedrale war etwa hundertdreißig Meter lang, gut fünfzig Meter breit und im Mittelschiff mindestens achtzig Meter hoch.
Die weichen Reifen des gelben Gabelstaplers rollten über knackenden, splitternden Abfall, der sich aus irgendwelchen Gründen im Mittelgang angesammelt hatte. Goetz entdeckte Konservendosen, leere Plastikflaschen und Reste von Feuerstellen auf den Marmorplatten des Fußbodens. Dort, wo der grelle Blitz in jener furchtbaren Nacht auch die Kathedrale berührt hatte, ragte ein Gewirr von Bleiruten aus den kostbar buntschimmernden Fensterwänden.
Goetz von Coburg ließ seinen Gabelstapler ganz langsam durch das Mittelschiff auf den Chor
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