Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Wasserrinne in einen engen Mauerdurchbruch, der sich wie eine schwarze Schlucht zwischen der inneren und der äußeren Mauer des linken Kathedralenturms von oben nach unten zog.
»Zurück!« schrie einer der Bankerts.
Mathilda spuckte ihn an.
»Laßt meinen Vater in Ruhe!«
»Wir wollen ihn nach oben bringen ...«
»Keiner von euch faßt meinen Vater an!«
»Aber Mathilda ...«
»Ja du!« fauchte Meister Wolframs Tochter ihren Bruder an. »Ich wußte immer, daß du nur ein Tölpel bist, aber das war zuviel, Hanns! Ahnst du denn nicht, was Corvay wirklich will?«
Der Schlitten mit der Leiche von Meister Wolfram neigte sich in den dunklen Schlund zwischen den beiden Mauern.
»Er kippt!« schrie einer von Corvays Männern.
Mathilda warf die Arme hoch.
»Zwei Mann an die Seile!« befahl sie. »Vier Mann an die Kante!«
Sie wußte selbst nicht, wie es geschah. Bankerts , die zwei Köpfe größer waren als sie selbst, gehorchten ihr. Sie war schon immer eine resolute Frau gewesen, aber jetzt war ihr Zorn größer als ihre Vernunft. Ohne zu wollen wurde Mathilda zur Mutter Courage der beiden verfeindeten Zwergvölker.
»He, schlaft nicht, da vorn! Mehr Seil, mehr Seil!«
Sie drehte sich um.
»Und ihr bekommt eins mit der Schweinekeule, wenn ihr nicht festhaltet!«
Ihr Mann stand bleich am Rand des bodenlosen Abgrunds.
»Na los, Hanns!« fuhr sie ihn an.
»Mathilda ...«
»Sollst du jetzt lamentieren? Sieh zu, daß du nach oben kommst! Nimm die Leitfäden und bleib dicht hinter König Corvay! Er darf uns nicht allein ins Sakriversum entwischen ...«
Im gleichen Augenblick hörten sie die ersten Glockenschläge.
» ...’s ist für Vater!« schrie Mathilda.
Die Seile strafften sich.
»Wahrhaftig, eine Hexe!« keuchte ein Bankert.
» ... oder des Teufels Großmutter!«
»Verdammtes Sakriversum!«
Der Zug der Suchenden bewegte sich mühsam weiter. Der Narr Lello wollte ein Spottlied anstimmen, aber da fiel ihm Mathilda ins Wort. Sie mußte eine ungeheure innere Kraft besitzen. Ohne sich um die fluchenden Bankerts zu kümmern, stimmte sie das alte Ave Maria von Josquin Despres an, dem Michelangelo der Komponisten im 15. Jahrhundert.
Von irgendwo kamen Paukenschläge, dann fielen immer mehr erschöpfte Schander in den langsamen, getragenen Gesang ein. Peitschen knallten in dem engen, stickigen Geheimgang. Der Rauch der Fackeln ließ die Augen tränen. Kinder wimmerten in den Armen ihrer Mütter. Die Kufen der behelfsmäßig zusammengezimmerten Schlitten knirschten über Steinkanten und schlugen hart auf Treppenstufen, wenn sie sich querstellten.
Überall blieben Menschen zurück, die nicht mehr weiter konnten. Andere, die schon seit vielen Stunden nicht mehr gesprochen hatten, bekamen wieder Mut, als sie die alte Motette hörten. Sie versuchten mitzusingen, auch wenn es bei vielen nur ein heiseres, dumpfes Stöhnen war.
Ein paar halbwüchsige Mädchen aus den Schander -Familien zeigten mehr Kraft als die meisten Älteren. Mit ihren hellen, klaren Stimmen nahmen sie die Melodie des Madrigalgesangs auf.
Über viele Treppenstufen und schräge Gleitbahnen hinweg fanden sich die Mitglieder des ehemaligen Dorfchores aus dem Sakriversum zu einem gemeinsam gesungenen Gebet. Sie konnten sich nicht sehen. Kein Dirigent bestimmte ihre Einsätze. Nur manchmal klang der starke Alt Mathildas durch den Sopran-Chor. Er machte ihnen Mut und zog auch die Erschöpften weiter.
*
Goetz von Coburg blieb vor dem Hochaltar stehen. Er hatte sich entschlossen, sein Refugium in der Kathedrale zu verlassen. Gut ausgerüstet mit Waffen, Lebensmitteln, Medikamenten und ein paar Werkzeugen kletterte er auf den gelben Gabelstapler.
Die Frontlampen leuchteten nur noch schwach. Er hatte vergessen, sie auszuschalten. Trotzdem reagierte der Elektromotor für den Antrieb noch.
Goetz ließ die beiden Dorne des Gabelstaplers höher summen. Sie wirkten jetzt wie Rammsporne. Aus dem Arsenal der Kirchenmänner hatte er sich einen Schutzhelm mit einem eingebauten Funkgerät und einer Sauerstoffmaske mitgenommen. Er stülpte ihn vorsichtig über den Kopf. Der Helm drückte an einigen Stellen, aber so war er sicherer ...
Er suchte eine Weile nach einem Piepser im Empfänger des Funkgerätes. Obwohl er wußte, daß er wahrscheinlich der einzige Überlebende der Neutronenbombe war, konnte er die kreatürliche Hoffnung nicht von einem Tag auf den anderen aufgeben.
Niemand an seiner Stelle hätte das gekonnt!
Er bewegte die Finger, die sich
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