Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
jetzt in Original-Strahlenschutz-Handschuhen aus Aluminiumfolie, Blei-Asbest, Borfasern und ein paar Lagen Fließkristallen befanden. Die Handschuhe ließen ihm überraschend viel Bewegungsfreiheit, ebenso die Stiefel, die er im Bleikeller gefunden hatte.
»Na dann!« sagte er zu sich selbst.
Er holte tief Luft und zog die Steuersäule zurück.
Der Gabelstapler hatte nicht mehr die Energiereserven wie im Verlagshaus. Goetz versuchte, schneller durch den Mittelgang der Kathedrale zu fahren, aber sein Gefährt schnurrte nur langsam weiter.
Der Gabelstapler kroch bis zu den geöffneten Türen des Hauptportals. Goetz blinzelte nach oben ins grelle Licht der Sonne. Erst als er fast die Stufen vor dem Portal erreicht hatte, sah er wieder nach unten.
Im gleichen Augenblick warf er sich nach vorn. Der Gabelstapler nickte auf der obersten Stufe der Freitreppe. Seine vorderen Gummireifen rutschten drei Stufen nach unten. Nur zehn Zentimeter fehlten zwischen den hochgehievten Greifern und den brodelnden Wassermassen, die den gesamten Domplatz überspült hatten.
Goetz rutschte von seinem Sitz. Er warf sich zur Seite, drehte sich und stolperte bis zum Portal der Kathedrale. Zitternd hielt er sich am Faltenzug eines steinernen Heiligen neben dem Portal fest.
Er starrte auf den See zwischen den Häusern. Woher kamen diese Unmengen von Wasser? Er kniff die Augen zusammen, sah nochmals hin und verstand es nicht.
Der gelbe Gabelstapler wirkte wie ein Roboter, der sich zum Trinken in den See geneigt hatte. Erst jetzt wurde Goetz bewußt, welcher Gefahr er entgangen war. Etwas mehr Geschwindigkeit, eine geringfügig stärkere Batterie, und er würde jetzt in den gurgelnden Fluten um sein Überleben kämpfen müssen ...
Es war eben doch nicht so einfach, wie er gedacht hatte!
Eine leere Stadt konnte auch eine gefährliche Stadt sein - eine verdammt gefährliche sogar!
Er klappte das Visier an seinem Schutzhelm hoch. Sofort roch er den brandigen Gestank, der sich mit Gasen aus den aufgebrochenen Sielen mischte. Er schlug das Helmvisier wieder zu. Hastig drehte er den Verschluß der Sauerstoff-Flasche auf seinem Rücken weiter auf.
In dieser Stadt konnte er nicht leben!
Also zurück in die Kathedrale?
Nicht ohne den Gabelstapler ...
Vorsichtig ging er auf das Fahrzeug zu. Er beugte sich über die Steuersäule. Ganz langsam senkte er die beiden Greifer ab. Jetzt konnte sich die Maschine nicht mehr nach vorn überschlagen. Goetz wußte nicht, daß dies durch das eingebaute Gegengewicht ohnehin nicht möglich gewesen wäre.
Vorsichtig kletterte er auf den schrägen Sitz. Er war bereit, sofort wieder abzuspringen, wenn der Gabelstapler nach vorn rutschte. Er drehte die Steuersäule um hundertachtzig Grad. Die Räder ruckten. Er preßte die Lippen zusammen, dann wagte er den zweiten Versuch. Etwas im Inneren des Gabelstaplers jaulte auf. Die Maschine schüttelte sich. Plötzlich griffen die Reifenprofile. Mit einem Satz nach hinten rumpelte der Gabelstapler die Stufen wieder hoch.
Goetz drehte die Steuersäule. Er wußte nicht, wie exakt die Lenkung funktionierte. Die Maschine holperte über Steinbrocken vor dem Hauptportal. Mit einem scharfen, kratzenden Geräusch schabte der rechte Greifer an einer Portalsäule entlang. Vom Bogenlauf über dem Portal fielen ein paar lose Mauerteile nach unten.
Ein Steinbrocken knallte hart auf seinen Schutzhelm. Es war ein Stück des Türsturzes.
Er duckte sich und ließ die Steuersäule los. In panischer Angst sprang er vom Gabelstapler und lief in die Kathedrale hinein. Draußen prasselten noch immer wie eine kleine Lawine Steinbrocken nach unten.
Er hätte nie gedacht, daß die uralten Mauern so brüchig waren! Erst jetzt fielen ihm wieder die Berichte vom jahrzehntelangen Kampf gegen die Umweltschäden ein. Abgase und Säure in der Luft hatten schon im vorigen Jahrhundert den Sandstein morsch gemacht und den Fensterfarben ihre metaphysisch leuchtende Kraft genommen.
Gewaltige Geldmengen waren ständig dafür erforderlich gewesen, neue Bauhütten, Steinmetze und Glasmaler zu finanzieren, die das Zerstörte austauschen und das noch Bestehende konservieren mußten. Sie konnten nicht allzuviel Erfolg gehabt haben. Oder hatte etwa die Neutronenbombe alle Bemühungen zunichte gemacht?
Goetz fröstelte bei dem Gedanken, daß er vielleicht nur noch im Vorratskeller des Domkapitels sicher war. Schweiß lief über seine Stirn. Er nahm den Helm ab und wischte sich mit dem Ärmel über den
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