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Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.

Titel: Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas R. P. Mielke
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Kopf. Seine Haare wuchsen wieder, zwar noch immer etwas stachelig und nicht an allen Stellen, aber irgendwann würde er sich rasieren müssen ...
    Er wollte wieder Mensch werden. Die langen Tage und Nächte, in denen er wie ein krankes Tier in seiner Höhle dahinvegetiert hatte, erschienen ihm immer noch wie ein schmerzhafter Alptraum.
    Er hatte plötzlich das Bedürfnis, Wiesen zu sehen, Bäume und blühende Sträucher.
    War es das?
    Brauchte er jetzt Kontakt zum Land? Zu Erde, die unverseucht war und die er anfassen konnte?
    Die leere Stadt und die riesige, nutzlose Kathedrale kamen ihm plötzlich wie unheimliche Relikte der Vergangenheit vor. Noch nie zuvor hatte er eine derartig intensive Sehnsucht nach Äckern, Weiden und Feldern empfunden.
    War jetzt nicht Frühling, in dem das Leben überall neu entstand?
    Er ging zum Portal und sah nach draußen. Der Gabelstapler hing mit einem Greifer an der linken Säule unter einem der Apostel. Schwarze Rauchwolken wälzten sich über die Giebel der Altstadt. An vielen Stellen leuchteten sie dunkelrot im Widerschein unsichtbarer Flammen.
    Warum brannte die Stadt? Und warum erst jetzt - dreiundvierzig Tage nach dem Tod ihrer Bewohner?
    Die Wassermassen strömten an den Hauswänden entlang, als würden sie ebenfalls vor der Kathedrale fliehen. Goetz kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.
    Es war sinnlos, wenn er versuchte, aufs Geratewohl aus der Stadt zu kommen. Das Wasser und die unvermittelt ausgebrochenen Brände beängstigten ihn ebenso wie die Erkenntnis, daß er auch in den Mauern der Kathedrale nicht sicher war.
    Aber noch stand der mächtige Bau!
    Vielleicht konnte er ihn nutzen, um sich einen Überblick zu verschaffen ...
    Von den Türmen aus mußte es möglich sein, einen Fluchtweg auszukundschaften. Er war nur einmal in seinem Leben in einem Kirchturm gewesen, aber das lag fünfzehn Jahre zurück.
    Damals war er mit seinem Vater und einem Kaplan in eine alte verlassene Dorfkirche eingestiegen. Er erinnerte sich noch ganz genau, wie sie mit Taschenlampen und aufgeschnittenen Kornsäcken fast ein Dutzend Tauben erbeutet hatten.
    Köstliche Täubchensuppe ...
    Ob es oben in der Kathedrale immer noch Tauben gab?
    Goetz wandte sich um. Er ging an Opferstöcken und einem Schriftenstand mit unordentlich verstreuten Traktaten vorbei. Opferkerzen lagen nach Preis und Größe geordnet in geschnitzten, staubigen Regalen. Vor zwei gegenüberliegenden Holztüren brannte eine Ewige Lampe an der Wand.
    Er erinnerte sich daran, daß Kathedralen nie ein Raum, sondern immer ein Weg gewesen waren, der zum Altar hinführte. Aber dort wollte er jetzt nicht hin. Er suchte nach einem Eingang zu den Türmen.
    Die linke Tür war verschlossen. In der rechten Tür, direkt neben einem Ewigen Licht, befand sich ein altes Schloß und dicht darüber das blinkende Quadrat einer elektronischen Sicherung.
    Goetz stutzte, dann fielen ihm die Schlüssel ein, die er dem toten Küster abgenommen hatte. Er holte sie aus einer Tasche seiner Hose.
    Die ersten vier Versuche verliefen negativ. Beim fünften Schlüssel ertönte ein leises Knacken. Es rauschte in einem Gitterschlitz neben der Tür, dann klang es, als ob ein Tonband zurückgespult würde.
    Goetz trat unwillkürlich einen Schritt zur Seite.
    Ein Suchton war zu hören, dann sagte eine Stimme: »Geben Sie Ihren Personenkode ein!«
    »Neunzehnhundertdreiundneunzig, eins-zwei-null-drei ...« flüsterte Goetz von Coburg automatisch. Es war sehr lange her, seit er eine Stimme gehört hatte. »GVC als Personenkennung.«
    Der unsichtbare Kontrolleur schnurrte, knackte und fiepte.
    »Sie sind Protestant?«
    Goetz nickte.
    »Sie sind Protestant?« wiederholte die Stimme.
    »Ja.«
    »Journalist?«
    »Ja.«
    »Einen Augenblick bitte ...«
    Goetz sah sich unbehaglich nach allen Seiten um. Er wußte, daß er mit einer Computer-Außenstelle sprach. Trotzdem störte ihn das Verhör.
    Es war verrückt - vollkommen absurd! In einer Stadt, in der es keine Menschen außer ihm mehr gab, mußte er warten, bis irgendein längst überflüssiges Kontrollsystem seine Identität überprüft hatte!
    Protestant oder Katholik!
    Was machte das noch aus?
    Es gab keine Menschen mehr, die sich aus irgendwelchen vorrationalen Gründen die Köpfe einschlagen konnten. Das hatten sie ja nun geschafft. Nur die Kontrollsysteme existierten weiter. Die Menschheit war nicht mehr dazu gekommen, sie auszuschalten ...
    »Entschuldigen Sie, Herr von Coburg«, sagte die Stimme aus der

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