Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
über dem Horizont stand, entschieden Agnes und Guntram, daß es für diesen Tag genug sein sollte. Das schwerste Stück stand ihnen noch bevor.
»Ich weiß gar nicht mehr, wie es aussieht«, stöhnte Guntram, als er sich neben seiner Schwester auf einen Mauervorsprung fallen ließ.
»Wir steigen in die wiegenden Gerüste,
in unsern Händen wiegt der Hammer schwer ...«
Guntram sah Agnes an. Sie hatte ihre Lippen nicht bewegt. Trotzdem war er sicher, daß sie an Verse eines Dichters gedacht hatte, von dem sie eigentlich nichts wissen konnte!
»Rilke«, sagte er leise.
»Ja.«
Er sah sie nachdenklich an.
»Woher kennst du ihn?«
»Woher weißt du, daß ich ihn kenne?«
»Ich habe gemerkt, daß du an ein Gedicht von ihm gedacht hast!«
»Aber ... ich habe nichts gesagt ...«
»Nein«, nickte Guntram, »aber vielleicht bist du die erste Frau, die wie ich das Geheimnis der Logenmeister kennt ...«
»Du meinst Gedankenlesen?«
Sie lachte vergnügt.
»Das kann doch jede Frau, die liebt! Das hat noch nie etwas mit Schwarzer Magie zu tun gehabt!«
»Merkwürdig«, sagte Guntram nachdenklich. Langsam wurde ihm seine Schwester unheimlich. Irgendwie paßte es ihm nicht, daß Agnes mehr zu wissen schien als er die ganzen Jahre angenommen hatte. Ob sie vielleicht sogar eine Hexe war?
»Nein!«
Er schrak zusammen.
»Du kannst es wirklich!« wunderte er sich.
»Nicht immer. Außerdem habe ich etwas von dem gehört, was Wolfram dir gesagt hat. Wenn man sich aufeinander einstellt, ist es gar nicht schwer!«
»Kennst du aus diesem Grund auch das Gedicht?«
»Ich habe dich beobachtet und dir vertraut, seit ich denken kann. Auch wenn wir unterschiedliche Menschen sind, verbindet uns doch der Glaube aneinander. Und dieses Band kann stärker sein als wir selbst ...«
Sie reichte ihm ihre Hand. Er nahm sie, und für einen Augenblick war alles so, wie er es immer gewünscht hatte. Er dachte nicht mehr an den schweren, steilen Weg, den sie gemeinsam überwunden hatten, an Mauerfugen, Wasserschläge und winzige Löcher in jedem Steinblock, jedem Pfeilerstück der Kathedrale. Die Widerlager für die Greifarme der Steinzangen, die sich durch das Gewicht der Werkstücke fest im Stein verbissen, waren wie winzige, für andere unsichtbare Steinstufen gewesen.
Der Fluchtplan im Testament des Baumeisters war kein System von Wegen, sondern die Lehre von der rechtschaffenden Baukunst zur Ehre Gottes, denn jeder Stein der großen Kathedrale bildete ein in sich vollkommenes Meisterwerk ...
Guntram und Agnes hatten verstanden, was ihr Urahn gemeint hatte. Sie waren über den schnellsten und direkten Weg nach oben geklettert, waren durch Scheinrosetten geschlüpft und hatten sich in schwindelnder Höhe über Schwibbögen, Fialtürmchen und Stützmauern immer höher gearbeitet.
Guntram blickte nach oben.
»Wir dürfen jetzt den Mut nicht verlieren«, sagte Agnes.
»Solange wir noch außerhalb der Kathedrale sind, könnte uns Corvay immer noch zuvorkommen ...«
»Nur, wenn wir aufgeben!«
Guntram nickte.
»Die Bankerts werden die sicheren Innenwege benutzen. Sie können einfach nicht so schnell sein wie wir ...«
»Aber sie haben Hilfsmittel, über die wir nicht verfügen!«
»Ein Treck ist etwas anderes als unser Versuch. Sie müssen jede Nacht Lager aufschlagen, kochen, Kundschafter ausschicken und warten, bis sie zurückkommen.«
»Trotzdem, Guntram! Ich fühle, daß wir weitergehen sollten. Wir brauchen Zeit, wenn wir das Sakriversum vor den Bankerts schützen wollen. Komm, iß etwas, wir müssen uns jetzt stärken!«
»Ich habe keinen Hunger.«
»Willst du jetzt unvernünftig werden?«
Guntram drehte sich um. Agnes wurde ihm immer unheimlicher. Dennoch liebte er sie in diesem Augenblick mehr als je zuvor.
»Es muß schön sein, im Sakriversum zu leben, wenn die großen Tiere der Weltlichen uns nicht mehr erschrecken«, sagte Agnes unvermittelt.
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht«, meinte Guntram.
Wieder überlegte Agnes.
»Eigentlich ...«
Sie stockte. Guntram sah sie an.
»Was ist?«
»Eigentlich bin ich sehr müde und erschöpft. Aber ich kann nicht schlafen, solange noch die Sonne scheint. Ob wir nicht doch versuchen sollten, noch etwas weiter zu kommen ...«
»Ist das dein Ernst?«
Agnes nickte. Er nahm sie in die Arme und drückte sie.
»Dann komm!« sagte er und lachte vergnügt.
»Vielleicht finden wir dort vorn im Turm irgendeine Mulde, in der sich etwas Wasser gesammelt hat.«
Er hob die
Weitere Kostenlose Bücher