Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
christlichen Verein junger Mädchen mußten ihr jetzt weiterhelfen.
Sie untersuchte die Mauern. Sie waren an der Südseite der Kathedrale aufgestiegen. An der Nordseite wäre es einfacher gewesen, die Himmelsrichtung zu bestimmen. Dort hätte sie vielleicht durch die Lage des Mittelschiffs und die feuchteren Nordmauern an der Außenseite etwas herausfinden können.
Außerdem wäre jetzt ein Seil nützlich gewesen ...
Sie nahm die Fackel in den Mund und sprang wie eine Katze über einen Mauerspalt. Ihre Finger krallten sich an einen vorspringenden Stein. Sie zog sich hoch, drehte sich auf den Rücken und kroch weiter. Als geübte Akrobatin kam sie ziemlich schnell vorwärts.
Als Corvays Wachen Alarm schlugen, war sie schon weit über dem Treck. Sie wollte wissen, welches Geheimnis das Sakriversum in sich barg, ehe Corvay es in Besitz nehmen konnte.
9. KAPITEL
Guntram und Agnes hatten den Eingang nicht gefunden. Vollkommen erschöpft waren sie spät in der Nacht eingeschlafen. Aber Guntram fand keine Ruhe. Irgendein Gift in der süßen, braunen, schäumenden Flüssigkeit hielt ihn noch lange wach. Er hörte, wie es in seinem Leib grummelte, während er versuchte, die vielen Lichtpunkte über sich zu zählen.
Die Nacht war klar und ungewöhnlich kühl. Während weit unten die brennenden Häuser der Weltlichen als Totenfackeln in der Dunkelheit leuchteten, funkelten über den Rauchfahnen Tausende von Sternen wie in einem gewaltigen Über-Sakriversum.
Guntram mußte immer wieder an die unerwartete Begegnung mit dem Weltlichen zurückdenken. Er hatte nicht viel von ihm gesehen. Nur als er diese strahlend weiße Fackel in die Luft geschleudert hatte, war es ihm gelungen, für einen Augenblick sein Gesicht zu erkennen. Er hatte einen Helm getragen, aber keine Rüstung ...
Er und Agnes hatten lange gebraucht, sich von dem Schreck zu erholen. Vielleicht waren sie deshalb unüberlegt und kopflos geflohen. Erst viel später hatte Guntram bemerkt, daß der zweite Teil des Testaments weg war. Er mußte ihn irgendwo verloren haben, wahrscheinlich schon als er den braunen Saft aus der Büchse in ihre Lederbeutel füllte ...
Sie hätten niemals davon trinken dürfen!
Er preßte seine Hände auf den Magen und stöhnte leise. Auch Agnes war unruhig. Der Geruch der brennenden Stadt hüllte längst auch die Kathedrale ein. Als das Rot des Himmels im Osten heller wurde und die Sterne langsam verblaßten, sank auch das Unheimliche der Stadt langsam zurück.
Dennoch wurde Guntrams Angst nicht geringer. Solange sie sich außerhalb der Kathedrale verbergen mußten, konnten sie viel leichter gefunden werden! Er wußte, daß die Weltlichen Instrumente besaßen, von denen er nichts verstand. Und wenn es außer jenem, der sie entdeckt hatte, noch weitere Überlebende gab, mußten er und Agnes so schnell wie möglich wieder ins Innere der Kathedrale!
Guntram wartete, bis sich die Schatten an den Zinnen und Verzierungen unterhalb des Daches auflösten. Der neue Tag begann mit einer hellen, klaren Sonne über dem Domchor im Osten. Er blinzelte in das reine Licht und faßte wieder Mut. Nach all den Tagen und Nächten in den Kellern empfand er die aufgehende Sonne wie ein kostbares Geschenk.
Er beugte sich über seine Schwester.
»Wach auf, Agnes!«
Sie reagierte sofort. Mit ihren großen, hellen Augen blickte sie ihn an.
Ich habe geträumt, daß du allein ins Sakriversum gegangen bist.«
»Warum sollte ich das?«
»Weil ich vielleicht nur eine Last für dich bin ...«
Er küßte sie auf die Lippen. Sie merkte sofort, daß es kein brüderlicher Kuß mehr war.
»Manchmal habe ich das Gefühl, daß wir etwas Verbotenes tun«, sagte sie leise. Er wußte, was sie in diesem Augenblick empfand.
»Du meinst den Inzest!«
»Ja«, nickte Agnes. »Könnte es nicht sein, daß wir deshalb ...«
»Was?«
»Nun, daß wir deshalb von Generation zu Generation immer kleiner geworden sind?«
»Das liegt am Fluch!« sagte er. »Außerdem vergißt du, daß unsere Haustiere ebenfalls kleiner geworden sind!«
»Das war kein Fluch, sondern absichtliche Zuchtauswahl! Vielleicht wollte jemand, daß auch wir immer kleiner werden ...«
Er hob die Brauen und sah seine Schwester kopfschüttelnd an.
»Manchmal haben Frauen wirklich komische Gedanken!«
Sie richtete sich auf und blickte an ihm vorbei. Die beiden Türme der Kathedrale strahlten in einem hellen Grau.
»Eines Tages werde ich deine Frau sein, Guntram, aber ich möchte vorher wissen, was
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