Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Angst vor Feuer, Kälte, Hitze und Gewittern. Naturgewalten und Dämonen, die unbekannten guten Götter und die Teufel der Unwissenheit waren Tag für Tag gegenwärtig gewesen. Aus der Balance des Schreckens und der Hoffnung war die Sehnsucht nach einer besseren Welt entstanden, der Glaube an eine reinere Wiedergeburt und an das Paradies.
In den vergangenen Jahrhunderten hatten Götter, Teufel und Dämonen andere Namen erhalten. Sie wohnten nicht mehr in der Natur, die den Menschen umgab und an deren Verhalten er erkennen konnte, ob der Kosmos günstig oder ungünstig gestimmt war.
Der inneren Isolation war eine äußere gefolgt, denn es gab schon lange keine Zeichen mehr, die man deuten und nach denen man sich richten konnte ...
Entwurzelt, innerlich leer und ohne unmittelbaren Kontakt mit den Wundern des Werdens und Vergehens in der Natur hatte sich die Menschheit in eine totale Abhängigkeit von den durch sie selbst geschaffenen Systeme begeben. Was ursprünglich der Suche nach der Weisheit Gottes entsprungen war, hatte in vielen Fällen zu bedeutenden Erkenntnissen geführt. Doch mit jedem technologischen Sieg waren die Seelen weiter verkümmert - so lange, bis auch Gefühle mit mathematischer Grausamkeit klassifiziert werden konnten.
Goetz überlegte, ob überhaupt irgend jemand einen Fehler gemacht hatte. Vielleicht war alles nur so gekommen, weil zu viele Spezialisten ohne Überblick über das ganze, filigran ineinander verwobene Informationsnetzwerk zum gleichen Zeitpunkt gegensätzliche Korrekturen eingespeist hatten ...
Konnte ein Kurzschluß, eine kurzfristige Überlastung oder ein an sich banales »menschliches Versagen« alle scheinbar perfekt ausgeklügelten Sicherungseinrichtungen mattgesetzt haben?
Oder gab es einen, der an einem bestimmten Punkt »Schluß« gesagt hatte?
Goetz schlug die Hände vors Gesicht. Er konnte nicht mehr weiterdenken. In diesem Augenblick fürchtete er sich mehr vor seinen Gedanken als vor dem Bewußtsein, allein zu sein ...
Mit feuchten, schwitzenden Händen schaltete er den Bildschirm ab. Ein Pausenzeichen leuchtete auf. Sekunden später blinkte eine Suchmeldung über den Bildschirm:
»NOTFALL ... NOTFALL ... NOTFALL! AN ALLE STAND-BY-MITARBEITER MIT JOURNALISTENAUSWEIS! BITTE UMGEHEND IM NACHRICHTENSTUDIO MELDEN!«
Goetz hatte keine Ahnung, was damit gemeint war. Für einen Moment fühlte er wieder diese seltsame Erregung in sich, die ihn schon mehrmals verwirrt hatte.
Er mußte sich zwingen, nicht schon wieder darauf zu hoffen, daß es noch Überlebende wie ihn gab.
Er preßte die Lippen zusammen und starrte auf den hektisch blinkenden Bildschirm. Wieder nur eine vorprogrammierte Aktion!
Trotzdem interessierte es ihn, welches der Systeme nach Journalisten suchte. Vorsichtig berührte er eine grüne Anwesenheitstaste unter dem Bildschirm.
Sofort veränderte sich das Bild.
»Kommen Sie sofort in die Kommunikations-Zentrale! « sagte eine warme, aber gleichzeitig nüchtern klingende Frauenstimme. Sie hatte den routinierten Charme einer Zeitansage. » Mehrere Personalausfälle erfordern den Einsatz eines kompletten Feuerwehr-Teams! Dies ist keine Übung! Ich wiederhole: Dies ist keine Ühung! «
Goetz lachte trocken. So makaber die Mitteilung klang - er wußte, daß es keine Übung war ...
Wieder drückte er auf die grüne Sensortaste. Alarmeinsätze wie dieser waren seit Jahren eine gesetzlich verankerte Pflicht in vielen Bereichen des Lebens. Seit dem Jahr 2005 wurden in allen industrialisierten Ländern der Erde in unregelmäßigen Abständen sogenannte DATSCHAs durchgeführt. Die Datenschutz-Alarme hatten ursprünglich verhindern sollen, daß fehlerhafte Eingaben oder nicht erfolgte Korrekturen die persönlichen Menschenrechte von ordnungsgemäß registrierten Bürgern beeinträchtigten.
Doch schneller als von vielen befürchtet, war der Begriff DATSCHA zum Symbol der totalen Überwachung durch anonyme Behörden, Institutionen und Verwaltungsorgane geworden.
DATSCHA war die Knute, mit dem die Systeme jedes Aufbegehren vollkommen legal verhindern konnten. Wer auch nur bei einem einzigen Datenschutz-Alarm durch das gespeicherte Informations-Raster fiel, trug für den Rest seines Lebens ein unsichtbares Kains-Mal auf der Stirn ...
Goetz wußte nicht, wie oft er an einem DATSCHA teilgenommen hatte. Es war so selbstverständlich für ihn gewesen, daß er nicht einmal auf die Idee gekommen war, darüber nachzudenken. Doch jetzt schüttelte er unwillkürlich
Weitere Kostenlose Bücher