Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Bankerts.
Lello war ebenso erschrocken wie Guntram. Er fuhr zurück und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Guntram blieb einen Augenblick lang wie gelähmt stehen, dann drehte er sich um und floh in Richtung Teufelsmauer.
»Wasser!« schrie Lello, als er entdeckte, was Guntram zur Innenseite des Rosettenfensters geschleppt hatte. »Hier gibt es Wasser, Wasser, Wasser!«
Sein Schreien wirkte wie eine Droge auf die anderen jenseits des Fensters. Kinder, die längst nicht mehr konnten, hoben den Kopf. Mütter rafften ihre letzten Kräfte zusammen. Männer mit blutenden Händen und Blasen an den Füßen stöhnten auf. Mädchen und Jungen warfen sich hoffnungsvolle Blicke zu.
In diesem Augenblick waren alle gleich.
König Llewellyn Corvay sah sofort, daß er die Hungernden und Durstenden nicht aufhalten konnte. Mit dem ihm angeborenen Geschick nutzte er die Entdeckung Lellos für sich aus.
»Auf, Leute!« rief er mit weittragender Stimme. »Jetzt ist erreicht, was ich euch immer versprochen habe! Kommt mit mir ins Sakriversum! Kommt alle mit mir!«
Er kletterte als einer der ersten durch eine zerstörte Scheibe des Rosettenfensters. Hinter ihm drängten sich Galus, Hector, Menennery Luck und seine anderen Berater ins Innere des Dachraums. Niemand achtete mehr auf die Überlebenden der Artistengruppe, die sich mühsam über Mauervorsprünge nach oben arbeiteten.
Einige Schander und Bankerts , die zu schwach waren, vom Südturm der Kathedrale an die Seile zu gehen, riefen verzweifelt um Hilfe. Keiner der Bankerts kümmerte sich darum.
Auf der Innenseite des Rosettenfensters stolperte Lello als erster über die beiden Wassersäcke. Er schleifte sie in eine steinerne Kuhle, ehe er mit seinem Kurzschwert die Ziegenhäute zerfetzte. Was wie die Tat eines Narren aussah, entpuppte sich bereits wenige Minuten später als Akt weiser Voraussicht.
Immer mehr Schander und Bankerts stürzten sich über den Wasservorrat. Sie ließen sich einfach am Rand der Kuhle fallen und tranken wie Vieh, bis sie von anderen zur Seite gedrängt wurden. Nach und nach konnten alle trinken.
Corvay vertrieb mit seinem Krummschwert jeden, der mehr als sein Maß verlangte.
Das Muli von Patrick Murphy leckte die letzten Wasserspuren aus der Kuhle. Die Bankerts hatten es über alle Stufen, Wasserschläge und Geheimgänge nach oben gebracht ...
Corvay hob sein Schwert. Ein paar Männer aus seinem Gefolge kamen näher. Sie hatten ihr Vertrauen in den König wiedergefunden.
»Wir brauchen mehr Wasser!« rief er. »Wo sind die Freiwilligen, die unseren Völkern Wasser und Lebensmittel aus dem Dorf dort drüben holen? Ich werde sie für ihren Mut und ihre Kraft belohnen.«
Einige kriegerisch ausstaffierte Gesellen aus Corvays Haufen grölten heiser.
»Geht, Männer! Schafft uns herbei, was wir uns sauer verdient haben!«
Eine Gruppe von wilden, jungen Bankerts trabte los. Schwerfällig schlossen sich einige ältere an. Es sah aus wie bei einem Volkslauf. Vorn hechelten die Kräftigsten, dahinter schwankten keuchend Einzelkämpfer, die niemals eine Chance hatten, rechtzeitig anzukommen ...
»Wir sollten Regeln aufstellen und Gesetze erlassen«, sagte Patrick Murphy besorgt. »Was wir jetzt nicht ordnen, kostet uns später jahrelange Mühen!«
»Zu früh! Zu früh!« sagte Menennery Luck mit meckernder Stimme. »Die Leute sind noch zu apathisch. Sie haben Durst, sie haben Hunger. Sie werden alles akzeptieren und später nicht verstanden haben, was sie versprachen ...«
»Wie wunderbar«, kicherte Lello. »Das ist die große Möglichkeit, ein neues Testament zu schreiben! Jeder, der mit uns ins Sakriversum will, muß seinen Namen unter die Erklärung setzen!«
»Welche Erklärung?« fragte Hector verständnislos.
Galus pfiff leise durch die Zähne.
»Nicht schlecht«, sagte er und nickte. Auch Menennery Luck, Patrick Murphy und die anderen Berater Corvays stimmten zu.
»Eine Unterwerfungs-Erklärung«, flüsterte Lello der Narr geheimnisvoll. »Damit hätten wir völlige Handlungsfreiheit, und keiner könnte etwas dagegen tun ...«
Galus und Menennery Luck grinsten sich an.
»Paragraph eins: Corvay ist unser König«, sagte Menennery Luck. »Und was dem König dient, dient allen, die im Sakriversum leben!«
»Paragraph zwei: du sollst nicht stehlen, was des Königs ist!«
Lello kiekste vergnügt.
»Paragraph drei«, sagte Hector, der inzwischen begriffen hatte, was die anderen meinten. »Also Paragraph drei heißt: alle
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