Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
offenes Fenster in die Gildehalle eingestiegen. Es war nicht schwer, an Martels Bütteln vorbeizuschleichen. Beim heiligen Jacques, ich habe mich gefühlt wie ein richtiger Einbrecher.«
Michel lächelte. Er hatte seine Meinung über diesen Mann inzwischen revidiert. Pierre mochte eitel und sehr von sich eingenommen sein, doch sein Herz saß am rechten Fleck.
»Geht’s endlich los?«, rief Carbonel und stampfte mit dem Gehstock auf.
»Wir warten noch auf meinen Bruder. Sobald er da ist, brechen wir auf.«
»Hier ist er schon!« Jean kam die kurze Treppe zum Schankraum heruntergestürmt, gefolgt von einem guten Dutzend junger Männer, die er in seiner Eigenschaft als Sprecher der Unmündigen zusammengetrommelt hatte, allesamt bewaffnet. Die meisten von ihnen hassten Tancrède Martel und die Stadtbüttel, die ihnen das Leben schwermachten, wo sie nur konnten, und Michel las in ihren grimmigen Gesichtern, dass sie die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Schultheiß kaum erwarten konnten.
Die Anspannung der Schwurbrüder ging merklich zurück, als Jean ihnen seine Begleiter vorstellte. Die meisten Kaufleute waren keine großen Kämpfer und dankbar für die Verstärkung durch einen schlagkräftigen Trupp.
»Abmarsch!«, rief Michel, und die Schar strömte auf die Gasse. Er spürte immer noch Isabelles Berührungen auf seiner Haut und roch ihren Duft, obwohl es inzwischen einige Stunden her war, dass sie sich in den frühen Morgenstunden davongestohlen hatte. Er war erfüllt von vibrierender Tatkraft und fühlte sich stark und unbesiegbar. Er hoffte nur, dass sein Plan aufging. Sorgen bereiteten ihm die vielen Waffen, die, wenngleich unerlässlich für ein bedrohliches Auftreten, allzu leicht ein Blutbad auslösen konnten, denn sein Vorhaben war nicht ohne Risiko.
»Hast du deinen Freunden gesagt, dass ich Gewalt um jeden Preis vermeiden will?«, fragte er Jean leise.
»Sie wissen Bescheid.«
»Pass gut auf sie auf. Wenn auch nur einer aus der Reihe tanzt und meint, den Helden spielen zu müssen, kann weiß Gott was passieren.«
Der zwanzigköpfige Trupp zog durch die Gassen der Unterstadt, überquerte den Kanal und marschierte in Richtung Dom, begleitet von den neugierigen und ängstlichen Blicken zahlreicher Bürger, die am Straßenrand und an den Fenstern ihrer Häuser standen. Jemand musste Martel vor den anrückenden Kaufleuten gewarnt haben, denn als die Schwurbrüder und ihre Helfer den Domplatz erreichten, erwartete der Schultheiß sie bereits. Auf seinen Gehstock gestützt, stand er bei seinen Bütteln vor der Gildehalle, offenbar entschlossen, sie notfalls mit Waffengewalt zu vertreiben.
Michel baute sich vor Martel auf, und seine Gefährten bildeten einen Halbkreis hinter ihm.
»Lasst uns in die Gildehalle.«
»Nein«, sagte Martel. »Die Anordnung des Bischofs ist eindeutig.«
»Er verwehrt uns unsere Rechte.«
»Er ist der Herr dieser Stadt. Er allein entscheidet, was in Varennes Gesetz ist.«
Michel nickte seinen Gefährten zu. Wer eine Waffe besaß, zog sie. Das hatte die beabsichtigte Wirkung: Das halbe Dutzend Büttel, das die Gildehalle abriegelte, wurde sichtlich unruhig. Voller Unbehagen traten die Männer von einem Fuß auf den anderen und schienen zu erwägen, die Spieße wegzuwerfen und zu fliehen.
»Reißt euch zusammen und nehmt gefälligst Haltung an!«, fuhr Martel sie an. »Das sind doch nur Krämer und Lehrlinge!«
»Eure Männer sind klüger als Ihr«, sagte Michel. »Sie wissen, dass sie uns nicht gewachsen sind. Gebt auf, Martel. Ihr seid im Unrecht, und ein Blutvergießen nutzt keinem.«
Der Schultheiß stierte an ihm vorbei. »Exzellenz!«
Michel drehte sich um. Bischof Ulman kam mit ausladenden Schritten über den Platz, das Gesicht bis hinauf zur hohen Stirn rot vor Zorn.
»Was erlaubt ihr euch?«, herrschte er die Kaufleute an. »Nicht nur, dass ihr meinen Befehl missachtet, ihr zieht auch noch durch die Stadt wie eine Bande von Aufrührern und Verbrechern!«
»Wir wollen nur von unserem Recht Gebrauch machen, uns zu versammeln«, erwiderte Michel. »Es ist ein Recht aus alter Zeit, das uns niemand nehmen darf. Auch Ihr nicht.«
»Das ist Rebellion! Ich werde Herzog Simon und den Erzbischof benachrichtigen!«
Michel ließ sich von Pierre Melville die Urkunde geben und entrollte das uralte Pergament. »Die Gilde existiert nun seit fast zweihundert Jahren. Kaiser Otto III. hat ihrer Gründung im Jahre 998 unter den Augen der Reichsfürsten auf dem Hoftag zu
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