Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
blieb, sodass sich der Zorn der Gilde auf einen äußeren Gegner richtete.
Er setzte sich an den Tisch und griff nach Feder, Tinte und Pergament.
An seine Exzellenz Folmar von Karden, hochwürdigster Erzbischof von Trier, begann er zu schreiben. Mein geliebter Herr und Freund – ich wende mich an Euch in einer ebenso empörenden wie heiklen Angelegenheit …
Ulman hielt inne. War es wirklich klug, den Erzbischof um Hilfe anzurufen und ihn zu bitten, kraft seines Amtes gegen die Gilde vorzugehen? Er dachte an das unerfreuliche Gespräch mit Johann von Trier und erinnerte sich an die Warnung des Archidiakons: Überall rebellieren die Kaufleute gegen unsere heilige Mutter Kirche und greifen nach der Macht. Ich frage mich, was Ihr tun würdet, wenn diese Krankheit dereinst Varennes heimsuchte. Seid Ihr stark genug, Eure Stadt davor zu schützen? Könnt Ihr bewahren, was Eure Vorgänger über Jahrhunderte geschaffen und aufgebaut haben?
Wenn Johann daran zweifelte, dass Ulman imstande war, das ihm anvertraute Bistum zu führen, tat das vielleicht auch der Erzbischof. Ulman begriff, dass es ein schwerer Fehler wäre, Folmar von Karden um Hilfe zu ersuchen. Man würde ihn für schwach halten. Für nicht fähig, der Bedrohung durch die Gilde Herr zu werden. Das konnte zur Folge haben, dass der Erzbischof ihn abberief und einen neuen Stadtherrn einsetzte.
Ulman warf den angefangenen Brief ins Feuer. Nein, er musste die Kaufleute selbst in ihre Schranken weisen. Um jeden Preis.
Er rief nach Namus. »Geh zum Gildemeister«, befahl er dem Diener. »Sag ihm, dass ich ihn unverzüglich sprechen will.«
»Sehr wohl, Exzellenz.« Namus verschwand auf die ihm eigene lautlose Art.
Keine halbe Stunde später traf de Fleury ein. Ulman hatte sich in den großen Saal des Palastes begeben und blickte aus dem Fenster, als der Gildemeister hereinkam.
»Ihr wollt mich sprechen, Exzellenz?«
Ulman ließ sich einen Moment Zeit, bevor er sich zu ihm umwandte: Der Bursche sollte spüren, wer der Herr im Hause war. Anschließend musterte er den jungen Mann eingehend. Das Gewand, das er trug, war schlicht für die Maßstäbe eines Kaufmannes – dabei war es zweifellos das beste, das er besaß. Von Géroux wusste Ulman, dass de Fleurys Vermögen bescheiden war, verglichen mit den Reichtümern, die ältere und erfahrenere Gildenmitglieder wie Raymond Fabre oder Pierre Melville angehäuft hatten. Und doch hörten diese Männer auf ihn, verehrten ihn gar wie einen Helden. Überaus erstaunlich, immerhin war in ihrer Welt Geld alles, das zählte.
Auf den zweiten Blick jedoch war dieser Umstand gar nicht so bemerkenswert. De Fleury besaß etwas, das mehr wert war als Grundbesitz, luxuriöse Häuser und Truhen voller Silber: Ausstrahlung. Die Fähigkeit, andere Männer zu begeistern. Ulman hatte schon bei seiner ersten Begegnung gespürt, dass dieser Mann besonders war. Von einer besseren Welt träumten viele, aber der neue Gildemeister schaffte es irgendwie, dass zahlreiche Menschen seinen Traum teilten.
Eine außergewöhnliche Gabe.
Eine gefährliche Gabe.
»Ich habe mir heute den Ofen angesehen, den die Gilde im Schmiedeviertel bauen lässt«, sagte Bischof Ulman. »Ein kostspieliges Vorhaben. Es überrascht mich, dass die Gilde bereitwillig so viel Geld ausgibt, ohne … nun …«
»Eine Gegenleistung zu erwarten?«, ergänzte de Fleury.
Ulman nickte knapp. »In der Vergangenheit ist die Gilde nicht gerade durch Freigiebigkeit in Erscheinung getreten. Aber kaum seid Ihr Gildemeister, werden plötzlich öffentliche Backhäuser gebaut, die Brunnen gereinigt, die Straßen gesäubert. Ich hörte, die Gilde beschäftigt neuerdings gar einen eigenen Dreckmeister. Woher kommt diese neue Großzügigkeit, frage ich mich.«
»Viele meiner Schwurbrüder sind schon lange der Meinung, dass wir mehr für unsere Stadt tun müssen. Also haben sie meine Wahl zum Anlass genommen, einige Maßnahmen zum Wohle Varennes’ einzuleiten.«
»Recht teure Maßnahmen, wie mir scheint.«
»Mein Vorgänger hat sparsam gewirtschaftet, und die Gildekasse ist voll. Wir können es uns durchaus erlauben, zehn oder fünfzehn Pfund für neue Öfen und saubere Brunnen auszugeben. Zumal es auch uns zugutekommt, wenn die Bürger Varennes’ zufrieden sind. Glückliche Menschen kaufen mehr.«
»Hinter der Großzügigkeit der Gilde steckt also nicht nur der Wunsch nach christlicher Mildtätigkeit, sondern handfester Eigennutz?«, fragte Ulman.
»Natürlich«, gab de
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