Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
sie am meisten schmerzte: an ihrem Reichtum. Jederzeit, Tag und Nacht, musste man damit rechnen, dass er mit seinen Männern durch eine der zahllosen Lücken in der Stadtmauer geritten kam und Varennes wie eine biblische Plage heimsuchte, indem er Warenlager anzündete, Wohnhäuser und Gärten verwüstete und kostbare Güter und Vieh raubte. Die Unberechenbarkeit seiner Überfälle machte es äußerst schwer, sich davor zu schützen, und es grenzte an ein Wunder, dass außer Marc Travère bisher kein Kaufmann zu Tode gekommen war.
Doch was sich unten auf dem Platz abspielte, sah nicht wie ein Angriff de Guillorys aus, wie Isabelle erleichtert feststellte. Ein einzelner Reiter war durch das Tor gekommen, ein Herold in den Farben des Herzogs. Das Fell seines Pferdes glänzte vor Schweiß, und das Tier tänzelte unruhig, während Dutzende von Menschen den Mann umringten. »Ihr Leute von Varennes-Saint-Jacques, ich bringe euch schlimme Kunde aus dem Heiligen Land«, rief er. »Jerusalem ist an die Sarazenen gefallen! Sultan Saladin hat die Stadt des Heiligen Grabes den Verteidigern entrissen, er hat zahllose Männer und Frauen gemordet und das wahre Kreuz geraubt. Betet, ihr guten Christen! Betet, der Herr möge diesen Teufel Saladin strafen und unseren tapferen Rittern in Akkon Trost in dieser schweren Stunde spenden.«
Die Leute wichen zur Seite, und der Herold galoppierte die Grande Rue zum Domplatz hinunter, um auch dort seine Nachricht zu verkünden.
»Jerusalem gefallen«, murmelte Michel. »Der Herr sei uns gnädig.«
Auf dem Platz machten sich Bestürzung und Schrecken breit. Die ersten Kreuzfahrer hatten das Heilige Land vor fast neunzig Jahren erobert – für die Bewohner Varennes’ war Jerusalem seit jeher eine Stadt der Christenheit und würde es immer sein. Alles andere erschien ihnen unvorstellbar, geradezu blasphemisch. Die Kunde des Herolds erfüllte die Menschen auf den Straßen mit solcher Furcht, dass sie an Ort und Stelle niederknieten, die Hände gen Himmel reckten und den Herrn anflehten, er möge die heidnischen Sarazenen vernichten.
Isabelle hatte sich die Hand vor den Mund geschlagen. Ihre Furcht vor de Guillory und seinen Kriegern war vergessen, denn sie wusste: Bald schon würde es Krieg geben, schrecklicher als jede Fehde, einen neuen Kreuzzug, denn die Könige des Abendlandes würden niemals hinnehmen, dass Heiden über Jerusalem herrschten. Unvorstellbares Blutvergießen stand der Christenheit bevor, endloses Leid.
Sie ergriff Michels Hand, und er schloss sie in die Arme.
Irgendwann nach der Matutin kam Wind auf. Eisig und schneidend strich er durch die Straßen, wirbelte den Schnee auf und ließ die Schilder vor den Handwerksstuben quietschend schaukeln. Michel zog sich den Mantel enger um die Schultern und schirmte die Blechlaterne mit dem Körper ab, damit die Kerzenflamme nicht erlosch. Er war müde und durchgefroren und sehnte sich nach seinem Bett, doch die Pflicht verlangte, dass er bis Tagesanbruch durch die Gassen am Salztor schritt und nach dem Rechten sah.
»Mistwetter«, murmelte er. »Wenn es wenigstens aufhören würde zu schneien.«
»Noch Wein?«, fragte Yves.
Michel nickte, und der Hüne reichte ihm den Schlauch. Der Würzwein war längst abgekühlt, trotzdem tat es gut, davon zu trinken. Behagliche Wärme breitete sich in seinem Magen aus. »Gehen wir zurück zum Tor«, sagte er zu seinen beiden Leibwächtern.
Gestern war der dritte Advent gewesen. Die Fehde ging in die vierte Woche, und ein Ende war nicht abzusehen. Ständig griff de Guillory an, obwohl der Winter das Moseltal längst fest im Griff hatte und der Schnee knietief auf Straßen, Feldern und Hügeln lag. Er hielt sich dabei strikt an das Fehderecht und überfiel nur den Besitz der Gilde – die Halle, die neue Brücke, die Häuser der Schwurbrüder –, nicht aber anderes städtisches Eigentum, womit er der Obrigkeit Varennes’ einen Vorwand gab, sich weiterhin aus den Kämpfen herauszuhalten und der Gilde jegliche Unterstützung zu verweigern. Die Besitztümer der Ministerialen verschonte er ebenfalls. Falls es noch einen Beweis dafür gebraucht hatte, dass Bischof Ulman mit dem Ritter unter einer Decke steckte, war er hiermit erbracht.
De Guillory legte es nicht darauf an, die Kaufleute zu töten; es genügte ihm, ihr Hab und Gut zu zerstören. Meist schlug er nachts zu, weshalb die Schwurbrüder gezwungen waren, abwechselnd Wache zu halten. Da sie unmöglich die ganze Stadt schützen konnten,
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