Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
eintrage, verliere ich den Überblick. Nimm Foulque mit, damit er lernt, wie es bei uns zugeht.«
Jean und die beiden Knechte machten sich sogleich an die Arbeit. Michel half ihnen, den Ochsenwagen zu beladen, und wünschte einmal mehr, er wäre nicht ständig gezwungen, seinen Bruder zu belügen. Obwohl er schon oft darüber nachgedacht hatte, Jean in alles einzuweihen, hatte er sich jedes Mal dagegen entschieden. Er wusste, wie schwer es war, mit einem solchen Geheimnis zu leben – er wollte Jean diese Last nicht aufbürden, nur damit er ihm gegenüber kein schlechtes Gewissen mehr haben musste.
Als sein Bruder fort war, sagte er Yves und Gérard, er sei in der Schreibstube und wolle bis zum Abend nicht gestört werden. Nach dem Ende der Fehde hatte er dafür gesorgt, dass seine Leibwächter vom Eingangsraum in die Gesindekammer zogen (»Dort ist es doch viel wohnlicher!«), denn das erleichterte es ihm beträchtlich, heimlich das Haus zu verlassen. Wenn die beiden Männer nichts zu tun hatten, saßen sie meist am Tisch und würfelten, so auch heute. Michel gab vor, nach oben zu gehen, machte mitten auf der Treppe kehrt, huschte nach unten und stahl sich durch den Hof nach draußen, wie immer in seinen Umhang gehüllt.
Isabelle saß bereits in der Dachkammer der Herberge. Michel zuckte innerlich zusammen, als er sie sah: Sie hatte geweint – ihre Augen waren rot, ihr Gesicht blass.
Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als sie die Arme um ihn schlang. »Michel«, flüsterte sie.
»Was ist los?«
»Gaspard hat mich Hernance Chastain versprochen.«
Michel glaubte, er habe sich verhört. Entgeistert starrte er sie an.
»Sie haben bereits alles in die Wege geleitet. Die Trauung ist in der Woche vor Mariae Himmelfahrt.«
Michel sank langsam auf die Bettkante. »Erzähl mir alles, von Anfang an.«
Eine halbe Stunde später war er kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig. Dabei hatten sie immer gewusst, dass es eines Tages so kommen würde. Und doch … Ein kleiner Teil von ihm hatte nie die Hoffnung aufgegeben, dass sich irgendwie alles zum Guten fügen würde. Dass er eine Lösung für ihre vertrackte Lage fände, so, wie er es ihr einst versprochen hatte. Nun kam er sich wie ein Narr vor, wie ein Tölpel. Er hatte doch schon vor einem Jahr gewusst, dass Gaspard ihm niemals verzeihen würde, und davon hing nun einmal alles andere ab.
Für einen Moment erwog er, zu Gaspard zu gehen und ihm die ganze Wahrheit zu erzählen: dass Isabelle und er sich liebten, dass sie sich seit anderthalb Jahren heimlich trafen – einfach alles. Doch er wusste selbst, wie töricht das wäre. Gaspard würde Isabelle töten für diesen Verrat an der Familienehre. Und ihn gleich mit.
Michel stand auf und fuhr sich durch die Haare, während er unruhig in der Kammer umherging. »Lass uns überlegen, was wir jetzt tun.«
»Wir können nichts tun«, sagte Isabelle.
»Ich habe dir mein Wort gegeben, niemals zuzulassen, dass du einen anderen Mann heiratest, und dieses Versprechen werde ich halten. Wir gehen gemeinsam fort.«
»Michel …« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben doch darüber gesprochen.«
Das hatten sie, oft sogar. Lass uns alles aufgeben und anderswo neu anfangen, hatten sie sich gegenseitig ausgemalt. Egal wo, nur fort von Gaspard, fort von allen Zwängen, die unserem Glück im Wege stehen.
Aber getan hatten sie es nie, natürlich nicht. Wäre es nur um sie gegangen, hätte nichts sie in Varennes gehalten. Aber es ging nicht nur um sie. Es gab Jean, ihr gemeinsames Geschäft und das Vermächtnis seines Vaters, für das er die Verantwortung trug; es gab Catherine und Duval und die anderen Schwurbrüder der Gilde, die auf ihn zählten. Isabelle hatte ihre Familie, die sie liebte, die sie um nichts in der Welt unglücklich machen wollte. Fortzugehen hätte bedeutet, all diese Menschen zu enttäuschen, sie im Stich zu lassen.
Nun aber erschienen Michel all diese Bedenken kleinlich und unwichtig. Ihre Liebe war bedeutsamer als sein Geschäft und die tausend Verpflichtungen, die ihn an Varennes banden. Gewiss, er träumte davon, seine Stadt in eine bessere Zukunft zu führen – aber was wäre dieser Traum noch wert, wenn er Isabelle an einen anderen verlor? Was wäre sein Leben noch wert?
»Es ist der einzige Weg«, sagte er. »Eine andere Lösung gibt es nicht.«
»Es wäre selbstsüchtig.«
»Liebe ist niemals selbstsüchtig.« Er ging vor ihr auf die Knie und ergriff ihre Hände. »Stell dir vor, du
Weitere Kostenlose Bücher