Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
einigen Wochen träumte er ständig von der Heimat, von Jean, von seiner Schwester Vivienne, die vor zwei Monaten geheiratet hatte, vom Geschäft der Familie. Stets waren es verwirrende Träume, die alltägliche Ereignisse mit Bildern aus der Vergangenheit mischten, und immer hinterließen sie in ihm ein Gefühl der Schwere. Woher kamen sie? Er konnte es sich nicht erklären. Natürlich vermisste er seine Familie, aber lange nicht so sehr wie vor drei Jahren, als er neu in Mailand gewesen war, und damals hatte er auch nicht von ihr geträumt.
Das muss das schlechte Gewissen sein. Ich sollte ihnen häufiger schreiben.
Er nahm sich vor, gleich heute Abend nach der Arbeit einen Brief an seine Familie aufzusetzen und ihn morgen früh einem berittenen Boten der Tuchhändlergilde mitzugeben. Mit etwas Glück würde er schon in zwei, drei Wochen in Varennes sein.
Er verscheuchte die Erinnerungen an den Traum und trat nackt ans Fenster seiner Kammer. Die Gasse vor dem Palazzo Agosti war noch nahezu menschenleer; lediglich zwei Stadtwachen mit geschulterten Spießen schlenderten über das Pflaster und verjagten einen Betteljungen, der unter den Arkaden herumlungerte. Spätestens in einer Stunde würde es in der schmalen Straße nur so wimmeln von fliegenden Händlern, Eilboten, Knechten und Mägden, die im Auftrag ihrer Herren Besorgungen machten.
Es versprach ein warmer, sonniger Maimorgen zu werden. Michel war nicht müde, obwohl er höchstens vier oder fünf Stunden geschlafen hatte. Wieder einmal hatte er bis weit nach Mitternacht gearbeitet und die Geschäftsbücher seines Lohnherrn auf den neuesten Stand gebracht – Messere Agostis Augenlicht ließ nicht mehr zu, dass er sich selbst um die Aufzeichnungen kümmerte. Michel beklagte sich nicht. Die zusätzliche Verantwortung gefiel ihm, und er brauchte nicht viel Schlaf.
Nachdem er sich gewaschen und sein bestes Gewand angezogen hatte, stieg er die Treppe hinab und betrat Messere Agostis Gemächer. Sein Lohnherr war bereits wach und saß am Tisch, der reich gedeckt war mit ofenwarmem Brot, Hartkäse, prallen Würsten und frischem, saftigem Obst.
»Herein mit dir, mein Junge, immer herein! Setz dich und lang tüchtig zu.«
Hätte er Salvestro Agosti nicht gekannt, wäre ihm nie eingefallen, dass einer der angesehensten und reichsten Kaufleute Mailands vor ihm saß. Der Messere sah eher wie ein kauziger Einsiedler aus, mit seinem wirren grauen Haar, dem zotteligen Bart und dem hageren Gesicht. Klein war er, dürr und knochig, seine Finger waren zu kurz und seine Ohren zu groß, und immerzu rieb er sich die Hände. Dank seiner unauffälligen Erscheinung, die durch das schlichte Gewand und die einfachen Lederschuhe noch unterstrichen wurde, vergaß man leicht, dass dieser gnomenhafte Mann über viele tausend Silberpfund Vermögen, mehrere Häuser und drei Handelsniederlassungen in Norditalien verfügte.
Wie jeden Morgen vibrierte er schier vor Tatendrang. »Heute ist ein wichtiger Tag, mein Junge, ein überaus bedeutender Tag«, sagte er, während sie aßen. »In zwei Stunden erwartet mich der Podestà. Fulvio und die Knechte laden gerade zwei Ballen panno pratese auf den Wagen. Ich habe es gerade noch einmal angesehen. Es ist wahrhaftig von erlesener Qualität – wenn unser geliebter Herr Podestà auch nur einen Funken Sinn für Schönheit hat, wird er nicht widerstehen können. Weißt du was, Michel? Ich habe so eine Ahnung, dass er uns sogar die gesamte Lieferung abnimmt. Bete, dass mich mein Gespür nicht täuscht. Es brächte uns auf einen Schlag achtzig Lira ein.«
Panno pratese war feines Tuch aus der aufstrebenden Stadt Prato. In ganz Norditalien leckten sich Gewandschneider und Hutmacher die Finger danach. Messere Agosti arbeitete seit Wochen daran, dem Podestà von Mailand, dem Oberhaupt der Stadtregierung, eine größere Menge zu verkaufen. Michel zweifelte nicht daran, dass es ihm gelingen würde. Der Messere mochte nicht mehr der Jüngste sein, aber sein senno , sein kaufmännischer Verstand, war noch so scharf wie vor zwanzig Jahren.
»Wünscht Ihr, dass ich Euch begleite?«, fragte Michel. Nach nunmehr drei Jahren in Mailand sprach er das Lombardische fließend, wenngleich er seinen lothringischen Akzent wohl nie verlieren würde.
»Nein, du triffst dich später mit Spini.«
»Ich dachte, das Treffen sei erst übermorgen?«
»Gestern Abend kam ein Bote. Spini kann übermorgen nicht – offenbar muss er dringend nach Venedig. Er erwartet dich
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