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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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einander zu übertreffen. Stets verbargen sie sich rechtzeitig hinter dem Kran, sodass ihre Opfer sie nicht entdeckten. Nach einer halben Stunde führte Michel mit sieben zu sechs Treffern.
    »Der gehört mir«, erklärte Gaspard grimmig, als ein Marktaufseher auftauchte und den Platz mit finsterer Miene nach den Übeltätern absuchte.
    In diesem Moment rief jemand von der Treppe: »Gaspard, du Satansbraten! Ich werde dir helfen, die Leute mit Schnee zu bewerfen! Wenn dein Vater eine Strafe zahlen muss, versohle ich dir den Hintern, das schwöre ich dir!«
    »Das ist Olive!«, keuchte Gaspard. »Schnell, ins Geheimversteck!«
    Sie huschten durch den Dachstuhl, schoben die Kiste weg, krochen in den Hohlraum und zogen die hölzerne Kiste von innen vor das Loch. Es war Rettung im letzten Augenblick, denn gleichzeitig flog die Tür auf, und stampfende Schritte kamen näher.
    »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du hier oben nichts zu suchen hast! Na warte, wenn ich dich erwische, ziehe ich dir beide Ohren lang.«
    Mit angehaltenem Atem saß Michel neben Gaspard in der winzigen, halbdunklen Kammer, während die Köchin den Dachboden absuchte.
    »Komm raus! Ich weiß, dass du dich hier irgendwo verkrochen hast.«
    Einmal kam Olive ihrem Versteck so nahe, dass Michel sicher war, sie würde sie finden. Dann aber machte sie auf dem Absatz kehrt, entfernte sich schimpfend und kündigte an, sie werde dafür sorgen, dass Gaspard die Zuchtgerte zu spüren bekäme.
    »Das sagt sie jedes Mal, aber sie ist so dumm, dass sie es immer vergisst, bis sie meinen Vater sieht«, murmelte Gaspard, nachdem die Tür in Schloss gefallen war. Er begann, seine Schätze zu durchwühlen. »Das habe ich letzte Woche aus der Vorratskammer gestohlen, und sie hat es immer noch nicht gemerkt.«
    Es war ein Krug mit in Honig eingelegten Pflaumen.
    Sie stopften sich die honigsüßen Früchte in den Mund, bis Michel glaubte, er werde platzen.
    Er war noch keinen Tag hier und hatte schon einen Freund gefunden.
    Varennes-Saint-Jacques war der schönste Ort der Welt.

E RSTES B UCH

    Civitas
    Mai 1187
bis August 1188

Mai 1187

    M AILAND
    M ailand erwachte aus unruhigem Schlaf.
    Im Westen der Po-Ebene war der Himmel noch dunkel, doch im Osten glühte er bereits violett und orange. Die Nacht zog sich langsam aus den Straßen der gewaltigen Stadt zurück wie eine geschlagene Streitmacht, während das erste Licht des Tages über die Dächer kroch und in Gassen und Klösterhöfe hinabtröpfelte. Schwarz erhoben sich die Zinnen der Wehrmauer vor dem flammenden Streif am Horizont, schwarz auch die Glockentürme des Doms. Zwei Tagelöhner torkelten über den menschenleeren Platz vor dem Gotteshaus, schwerfällig und betrunken. Einer hob seinen Kittel und urinierte gegen die Ziegelsteinfassade des Palazzo del Podestà; der andere stimmte ein schweinisches Lied an und weckte einen Hund auf, der wütend zu bellen begann.
    Ein Hahn krähte im Hinterhof einer Herberge bei der Porta Romana, ein zweiter in der Gasse der Waffenschmiede, ein dritter in den Gärten bei der Ostmauer. Straßenräuber entrissen ihrem sterbenden Opfer die Geldkatze, wischten ihre Dolche ab und flohen vor der Morgendämmerung in ihren Schlupfwinkel. Bettler und Krüppel regten sich auf den Stufen der Kirchen und durchsuchten ihre Lumpen nach Brotresten. Kupplerinnen und Dirnen in den Arkaden zählten den Lohn der Nacht.
    Hunderttausend Seelen seufzten, während allmählich die Wirklichkeit in ihre Träume drang.
    Als die Sonne aufging, riefen die Klosterglocken zur Prim, dem ersten Gebet des Tages. Mönche verließen schläfrig ihre Zellen und schlurften durch die Kreuzgänge. Die Nachtwächter der verschiedenen Viertel beendeten ihre Runden, löschten ihre Laternen und stapften müde zu ihren ärmlichen Quartieren. Kerzen und Kienspäne flammten in den Fenstern auf; Dienstboten in den Palazzi der Reichen und Mächtigen bereiteten ihren Herren das Morgenbrot und legten frisch ausgebürstete Gewänder bereit. Ein Geldwechsler küsste ein letztes Mal seine blutjunge Magd und raunte ihr Versprechen zu, die er niemals einlösen würde. Leise stahl er sich davon und schlüpfte ins eheliche Schlafgemach, bevor sein Weib zu sich kam.
    Michel erwachte, als der letzte Glockenschlag verklang. Er hatte wieder geträumt, irgendetwas von seinem Vater, der im fernen Oberlothringen mit dem Salzschiff auf der Mosel fuhr. An mehr konnte er sich nicht erinnern.
    Er setzte sich auf, rieb sich das Gesicht. Seit

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