Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Woche etwas Geld zurücklegen konnte. In einem Jahr, wenn er heimkehrte, würde sein Erspartes dem Geschäft seiner Familie zugutekommen. Nein, er hatte es wahrlich nicht bereut, dass ihn sein Vater nach Mailand geschickt hatte. An keinem einzigen Tag in den vergangenen drei Jahren.
»So, genug geplaudert«, sagte der Messere und strich Brotkrümel von seinem Gewand. »Ich sollte allmählich aufbrechen – der Podestà schätzt es nicht, wenn man ihn warten lässt. Bitte den heiligen Nikolaus, dass er mir gewogen ist. Und vergiss Spini nicht.«
»Ich reite gleich los«, sagte Michel.
»Ausgezeichnet. Und denk daran …«
»Hundert Lira ist das Maximum, achtzig das Ziel.« Michel unterdrückte ein Lächeln. »Ich werde es beherzigen, Messere. Sorgt Euch nicht.«
Wenig später saß er im Sattel von Maronne, seiner kastanienbraunen Stute, und ritt durch die Straßen, auf dem Kopf eine elegante Mütze. Die Stadt war inzwischen zum Leben erwacht. Schuster, Tischler und Gürtelmacher öffneten ihre Werkstätten und riefen einander fröhliche Grüße zu. Händler und Kleinkrämer bauten vor ihren Läden Tische mit den verschiedensten Waren auf. An den öffentlichen Brunnen und Backhäusern versammelten sich die Frauen und plauderten, während sie ihre Krüge füllten oder den Brotteig in den Ofen schoben.
Michel hatte sich längst an den Lärm, den Gestank und das Gewühl in den Gassen gewöhnt; anfangs jedoch hatte ihn Mailand schier überwältigt. Wie damals bei seiner Ankunft in Varennes, als er noch ein kleiner Junge gewesen war, hatte er nicht glauben können, was sich seinen Augen darbot: Hunderttausend Menschen lebten innerhalb der Stadtmauern, und viermal so viele im contado , im Umland Mailands. Es gab zweihundert Kirchen, deren Glocken stets zur gleichen Zeit schlugen, und mächtige Befestigungsanlagen mit Wehrtürmen und Wassergräben. Und dann der allgegenwärtige Reichtum: Kaufleute und städtische Amtsträger residierten in prunkvollen Palästen, die im Norden des Heiligen Römischen Reiches Erzbischöfen und Fürsten vorbehalten gewesen wären. Patrizier und ihre Gemahlinnen trugen Kleider aus bestem flämischem Tuch und englischer Wolle und schmückten sich mit Armreifen und Ringen aus afrikanischem Gold. Mehrere Kaufmannsgilden wachten über die Handelsströme, die aus allen Ländern der Christenheit kamen und tagtäglich Geld, Wissen und Waren in die Stadt spülten. Auch die einfachen Bürger profitierten vom Wohlstand ihrer Stadt. Fast alle Straßen waren gepflastert; Brunnen, Backöfen und Mühlen wurden ständig gereinigt und erneuert; Steinhäuser gab es zu erschwinglichen Preisen. Kaum jemand musste Hunger leiden, denn städtische Verordnungen stellten sicher, dass es niemals an preiswertem Getreide, Fleisch und Fisch mangelte.
All das war überaus erstaunlich, doch mehr noch als Größe und Pracht bewunderte Michel inzwischen die Fortschrittlichkeit der Lombardenmetropole. Kein Bischof oder Edelmann beherrschte Mailand, sondern ein Kollegium aus gewählten Bürgern, das sämtliche Geschicke der Stadt lenkte. So verfügte das Volk selbst über sein Schicksal und musste sich weder der Kirche noch dem Adel beugen.
Michel betrachtete versonnen die imposanten Palazzi und Amtsgebäude am Straßenrand. Er konnte es kaum erwarten, Jean und Gaspard von alldem zu erzählen, wenn er nach Hause kam. Wahrscheinlich würden sie ihm kein Wort glauben.
Vom Domplatz aus ritt er nach Nordosten. Die Gassen wurden schmaler, und die Leute warfen ihm neugierige oder argwöhnische Blicke zu. Obwohl man in Mailand an Fremde gewöhnt war, erregte er in diesem Viertel, wo hauptsächlich Einheimische wohnten, durchaus Aufsehen. Denn anders als viele Lombarden hatte er helle Haut, meergrüne Augen und blondes Haar, ganz wie seine Mutter. Als Kind hatte man ihm stets prophezeit, er werde auch einmal so schlank und fragil werden wie sie, doch zu seiner Erleichterung war es anders gekommen: Von seinem Vater hatte er die breiten Schultern und den zähen Körperbau geerbt. Wenngleich kein Kraftprotz wie Jean, konnte er sich dennoch durchsetzen, wenn es darauf ankam. Seinem Vater verdankte er auch die kurzen, von zahllosen Wirbeln durchsetzten Locken, denen kein Kamm der Welt gewachsen war.
Vor einem Anwesen im Schatten der Wehrmauer zügelte er Maronne. Das Haus war heruntergekommen, und auf der rechten Seite schloss sich ein weitläufiger Garten an, umgeben von einer Mauer, von der der Putz bröckelte. Das muss es sein,
Weitere Kostenlose Bücher