Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Scherz nach dem anderen zu reißen.
Auch der alte Tolbert war ein Mann nach Michels Geschmack. Obwohl er nicht in Varennes wohnte, wusste er bestens über alle Vorgänge in der Stadt Bescheid. Wie sich zeigte, war er kein Freund der Kirche und der Ministerialen; mit seiner prankenhaften Hand drosch er Michel auf die Schulter und sagte, als er Gildemeister gewesen sei, habe Varennes goldene Jahre erlebt. »Es ist eine Schande, was Ulman Euch angetan hat«, dröhnte er. »Hätte der Herzog auch nur einen Funken Verstand im Kopf, hätte er Géroux und die ganze Schöffenbande fortgejagt und Euch zum Bürgermeister ernannt.«
Michel hatte sich gefragt, ob Tolbert Bedenken haben würde, seine Tochter mit einem Mann zu verheiraten, dessen Bruder ein verurteilter Ehebrecher war. Tolbert ließ ihn jedoch wissen, für ihn sei diese Sache erledigt. »Ein Mann sollte nicht sein ganzes Leben lang für seine Fehler büßen«, sagte er. »Ihr habt für Eure Taten bezahlt – damit sind sie vergeben und vergessen.«
Und trinken konnte der alte Freibauer wie ein brabantischer Söldner. Während er mit Michel über die Zukunft Varennes’ und der Gilde debattierte, stürzte er mehrere gewaltige Krüge Bier hinunter, ohne dass er zu lallen anfing. Michel dagegen war bei Einbruch der Dunkelheit so betrunken, dass er kaum noch gerade laufen konnte, als Jean und er sich verabschiedeten und zu den Pferden gingen. Unter dem Gelächter des gesamten Hofes kippte er aus dem Sattel und fiel in den Schnee, kaum dass er aufgestiegen war.
Jean und Tolbert einigten sich binnen weniger Tage auf die Höhe von Brautgabe und Mitgift. Jeans Vermählung mit Adèle und der Verbindung ihrer beider Familien stand nun nichts mehr im Wege.
Als der Februar zu Ende ging, durchbrach die Sonne die Wolkendecke über dem Tal. Der Schnee begann zu schmelzen, Eisschollen trieben auf der Mosel dahin, und das Leben eroberte zaghaft die Wiesen und Äcker und Wälder des Bistums zurück.
Am siebten März im Jahre des Herrn 1192, einem Sonnabend und dem ersten richtigen Frühlingstag, heiratete Jean seine Braut Adèle in einer kleinen Steinkirche über dem Moselufer und führte sie heim.
B URG G UILLORY
W ährend Jean Adèle zur Frau nahm, fand ganz in der Nähe noch eine Hochzeit statt: Auf Burg Guillory vermählte sich Aristide, Sohn des Renard, mit Yolande de Bitche aus dem Hause Châtenois.
Es war ein klarer, lauer, sonniger Morgen, und eine frische Brise trug den Frühlingsduft knospender Veilchen und Krokusse vom Tal herauf. Einen schöneren Tag für seine Hochzeit konnte sich ein Mann kaum wünschen – und doch war Aristide seit dem Aufstehen übler Laune. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie die Zeremonie im Stammhaus derer von Bitche gefeiert, oder wenigstens in Nancy, der herzoglichen Residenz. Aber es ging nicht nach ihm. Tatsächlich hatte Yolandes Vater Ferry alle Entscheidungen getroffen, was die Hochzeit betraf, und der alte Ritter bestand darauf, dass die Trauung gemäß ehrwürdiger Traditionen im Familiensitz des Bräutigams stattfand.
Schlimm genug, dass man über Aristide verfügte wie über einen Höfling. Aber dass nun all seine Gäste sahen, in was für einem lausigen Zustand die Burg seiner Väter war, war schlicht beschämend. Nach all den Jahren war die Vorburg immer noch nicht fertig. Überall Gerüste, Gräben, Hebekräne und schneebedeckte Haufen von Steinen und Schutt: eine Bauruine. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie seine Braut und ihre Familie hinter vorgehaltener Hand über ihn redeten: Aristide, der Bettelritter. Ein Wunder, dass Ferry die Hochzeit nicht auf der Stelle abgesagt hatte.
Zur Zeremonie hatten sie sich vor dem Portal der Burgkapelle eingefunden, und die Gäste bildeten einen Halbkreis um das Brautpaar. Neben Herzog Simon und seinem Weib Agnes war fast die ganze Familie Yolandes gekommen: natürlich ihr Vater und ihre Mutter Ludmilla sowie die meisten ihrer zwölf Geschwister, darunter ihr ältester Bruder Ferry II., der nach dem Tod seines Vaters einmal der Herr von Bitche werden würde. Außerdem drängten sich vor der Kapelle gut zwanzig weniger bedeutende Ritter und Edelleute aus dem Gefolge der Châtenois. Die meisten Männer kannte Aristide von der Fehde gegen Bar und diversen anderen Feldzügen.
Das Vermählungsritual leitete kein Geringerer als der Bischof von Metz. Während der Kirchenfürst die Messe las, musterte Aristide argwöhnisch die Gesichter seiner Gäste, bei denen es sich zu einem
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