Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
dummer, kleiner Narr. Ich bin ein Ritter des Herzogs und du nur ein Krämer.«
Er ging neben Jean in die Hocke, in der Hand den blutverschmierten Dolch, und packte ihn am Kragen. Trotz seiner Schmerzen wusste Jean mit glasklarer Gewissheit, dass de Guillory ihm die Kehle durchschneiden würde. Er versuchte sich zu wehren, versuchte, den Arm des Ritters wegzudrücken, doch er war längst zu schwach.
»Was ist da vorne los? Gebt Euch zu erkennen!«
Knirschende Schritte. Ein trübes Licht, das um eine Gestalt mit einer Pike in der Hand herumfloss. Der Nachtwächter.
De Guillorys Kopf ruckte herum. Leise fluchend hüllte er sich in seinen Umhang, huschte davon und war Augenblicke später in der Schwärze einer nahen Gasse verschwunden.
Jean versuchte aufzustehen, vergebens. Dabei griff er in eine Wasserpfütze. Nein, kein Wasser. Blut. Sein Blut. Sein ganzes Gewand war bereits getränkt davon.
Das also hatte der Blutschnee zu bedeuten. Und ich dachte, mit der Roten Ruhr hätten wir alles überstanden. Was bin ich nur für ein Dummkopf …
Er durfte nicht sterben. Wenn er hier in dieser Straße sein Leben aushauchte, würde Michel nie erfahren, was er herausgefunden hatte.
»Seid Ihr verletzt, Herr? Allmächtiger Gott!«, rief der Nachtwächter, als er Jean da liegen sah, und bekreuzigte sich. »Habt keine Angst, ich helfe Euch! Wir bringen Euch ins Warme, und ich rufe einen Wundarzt.«
Jean packte ihn am Kragen und wollte ihm sagen, dass es Aristide de Guillory gewesen war, der ihn so zugerichtet hatte. Doch alles, was er zustande brachte, war ein Seufzen. Der Nachtwächter löste behutsam seine Hand und klopfte an die Türen der umstehenden Häuser. Erst bei der dritten hatte er Erfolg, und ein Mann im Nachtgewand trat ins Freie. Er half dem Nachtwächter, Jean ins Haus zu tragen, wo sie ihn auf eine Schlafstatt betteten.
Leute starrten auf ihn herab, schlaftrunkene, erschrockene Hausbediente. Trotz des Kerzenlichts konnte Jean ihre Gesichter kaum erkennen. Auch ihr aufgeregtes Gerede verstand er nicht. Ihm schwanden allmählich die Sinne. Außerdem stiegen Bilder in ihm auf, die klarer, mächtiger und farbenfroher waren als die Wirklichkeit um ihn herum. Erinnerungen an vergangene Tage, an die glücklichsten Stationen seines Lebens.
Er sah vor sich, wie er einst mit seinem Vater und seinen Geschwistern nach Varennes-Saint-Jacques gekommen war und die Wunder dieser Stadt zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen hatte. Was hatten sein Bruder und er damals gestaunt über Herrn Carons Haus und die funkelnden Silberleuchter in den Zimmern. Neue Bilder überlagerten die ersten, Erinnerungen an die zahllosen unbeschwerten Sommertage auf den Wiesen vor den Wehrmauern, als Michel und er gegen Gaspard und die anderen Jungen mit einem zerfledderten Lederklumpen Fußball gespielt hatten. Meistens hatten sie gewonnen, denn Michel war klüger und Jean stärker als ihre Gegner. Sein Bruder und er hatten sich stets ergänzt; was einer von ihnen nicht gut konnte, machte der andere mühelos wett. Wenn Jean nun an jene Jahre zurückdachte, erschienen sie ihm wie ein einziger sonniger Nachmittag ohne Sorgen, angefüllt mit wilden Träumen von einer verheißungsvollen Zukunft. Seine Gedanken wanderten weiter zu seiner glorreichen Wahl zum Sprecher der Unmündigen und zu dem Mädchen, mit dem er Jahre zuvor seine ersten Erfahrungen in der Liebe gemacht hatte, Beatrix. Hübsch war sie gewesen mit ihren blonden Locken und den Sommersprossen. Doch nicht so hübsch wie Adèle.
Adèle. An sie dachte er am meisten. An ihre Hochzeit an jenem herrlichen Frühlingstag. An ihre erste gemeinsame Nacht. An die Geburt ihrer Tochter Azalaïs. Es kam ihm vor wie gestern, als sie in seinen Armen gelegen hatte, winzig und rosafarben. Dabei konnte es nicht mehr lange dauern, bis sie zu laufen anfing.
Adèle, flüsterte er stumm. Azalaïs.
Als die Dunkelheit immer näher rückte und ihn schließlich zu umarmen begann, lächelte Jean.
V OGTEI A LTRIP
T homasîn presste die Lippen zusammen, tauchte den Gänsekiel in die Tinte und zeichnete mit konzentrierter Miene Buchstaben auf das Pergament. Isabelle unterdrückte ein Schmunzeln, während sie seine Bemühungen verfolgte. Wenn Thomasîn schrieb, machte er stets ein Gesicht, als leiste er Schwerstarbeit.
»›Vogt‹ schreibt man mit V, nicht mit F«, korrigierte sie ihn.
»Warum?«
»Weil es von dem lateinischen Wort ›vocatus‹ kommt.«
»Manchmal hörst du dich an wie ein Pfaffe«,
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