Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
und die Bewohner Varennes’ wieder ihre Arbeit aufnahmen, ging Michel mit Melville zur Gildehalle und entrichtete die Aufnahmegebühr. Drei Tage später traten die Schwurbrüder zusammen, und im Versammlungssaal leistete er unter den Augen der Heiligen seinen feierlichen Gildeneid. Als ihn die Schwurbrüder in ihrer Mitte aufnahmen, war er so gerührt wie jener junge Mann, der vor mehr als zehn Jahren in die Gilde von Varennes-Saint-Jacques eingetreten war.
Ich bin wieder zu Hause, dachte er, während er seinen Platz an der Tafel einnahm.
Er erkannte die Gilde nicht wieder. Viele einstige Mitglieder, Freunde wie Feinde, waren verstorben. Stattdessen saßen neue Gesichter an den Tischen, junge Männer, die ihre Unternehmungen erst vor wenigen Jahren gegründet hatten. Sie hießen René Albert, Eustache Deforest, Philippe de Neufchâteau, Adrien Sancere und Girard Voclain und betätigten sich als Salz-, Tuch- und Gemischtwarenhändler. Von Beginn an hatten sie erlebt, wie schwer es war, ein Geschäft aufzubauen und Handel zu treiben, wenn der Stadtherr seine Bürger wie Leibeigene behandelte, wenn ein Mann die Gilde führte, der nicht willens und imstande war, die Interessen der Kaufleute gegenüber der Obrigkeit zu vertreten. Das hatte sie zu eingeschworenen Gegnern de Guillorys und treuen Anhängern des neuen Gildemeisters Pierre Melville gemacht. Michel war beeindruckt von ihrer jugendlichen Kraft und ihrer Aufgeschlossenheit für neue Ideen. Diese Männer, spürte er, waren entschlossen, de Guillory die Stirn zu bieten und für eine bessere Zukunft zu kämpfen.
Dieser neue Geist hatte bewirkt, dass Melville keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr hatte. Aimery Nemours, der letzte Ministeriale in der Gilde, saß griesgrämig an der Tafel, stopfte sich Fleisch und Brot in den Mund und sprach den ganzen Abend kaum ein Wort – ein Mann ohne Freunde, ohne einen einzigen Anhänger. Duval raunte Michel zu, Nemours blase seit seiner vernichtenden Niederlage gegen Melville Trübsal und verstehe die Welt nicht mehr. »Von ihm haben wir nichts mehr zu befürchten – allenfalls, dass er de Guillory zuträgt, worüber wir reden.« Und Fromony Baffour und Thibaut d’Alsace, die ewigen Wendehälse, taten das, was sie seit eh und je taten: Sie schwammen mit dem Strom. Duval erklärte, sie hätten Nemours die Gefolgschaft aufgekündigt, als sich abzeichnete, dass der Ministeriale auf verlorenem Posten stand. Seitdem liefen sie Melville nach, wie sie einst Géroux nachgelaufen waren. »Ein erbärmliches Schauspiel, das die zwei uns bieten. Aber wenigstens machen sie uns keine Scherereien mehr.«
Nachdem die Schwurbrüder eine Stunde lang über Geschäfte gesprochen hatten, ergriff der Gildemeister das Wort.
»Wie die meisten von euch wissen, hat de Guillory vor einigen Jahren Herrn de Fleury und seinen Bruder massiv bei ihren Geschäften behindert«, begann Melville. »Es steht zu befürchten, dass er das wieder tun wird, sowie er erfährt, dass Michel der Gilde beigetreten ist. Aber diesmal werden wir ihn schützen.«
Nahezu alle Schwurbrüder bekundeten ihre Zustimmung, auch die Neulinge. Nur Nemours, Baffour und d’Alsace sagten nichts.
»Was ist damals vorgefallen?«, erkundigte sich Adrien Sancere, ein gut aussehender Blondschopf mit schulterlangem Haar, der höchstens fünfundzwanzig Sommer zählte.
»De Guillorys Leute haben uns schikaniert, wo sie nur konnten«, berichtete Michel. »Sie verwehrten uns den Zugang zur Saline, beschlagnahmten ohne Grund Waren und berechneten uns überhöhte Einfuhrzölle. Außerdem bedrohte de Guillory die Handwerker und Stadtbauern, damit sie keine Geschäfte mehr mit uns machten.«
»Dieser Kerl ist ein Menschenschinder und Ausbeuter«, sagte René Albert, der Michel vom Aussehen, aber nicht vom Wesen her ein wenig an Gaspards Freund Stephan Pérouse erinnerte: dasselbe rundliche Gesicht, derselbe Spitzbart. »Und so einen macht der Herzog zum Herrn einer Handelsstadt.«
»Die Frage ist, was wir tun können, ohne dass er uns Verschwörung und Störung des Friedens vorwerfen kann«, sagte Isoré Le Roux. »Wir dürfen ihm keinen Anlass geben, die Gilde zu verbieten.«
Melville hatte Michel vor der Versammlung berichtet, de Guillory habe angekündigt, die Gilde beim kleinsten Widerstand gegen seine Macht zu zerschlagen. Er werde nicht denselben Fehler machen wie einst Bischof Ulman und tatenlos zusehen, wie die Gilde zu einem Hort der Rebellion werde, hatte er die Schwurbrüder
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