Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
kleine Stadt zu einem einzigartigen Ort im Abendland machte. Nun, einzigartig war sie zweifellos, aber von Liebreiz konnte keine Rede sein.
Während Michel an der Richtstätte vorbei zum Salztor im Südosten schritt, gestand er sich ein, dass Varennes – wenngleich eine civitas , eine alte Bischofsstadt – nicht mehr war als ein etwas größerer Marktflecken. Die alte römische Stadtmauer wurde von den knapp zweitausendfünfhundert Bewohnern seit Jahrhunderten als Steinbruch genutzt und bot kaum noch Schutz. Die allermeisten Häuser bestanden aus Holz und glichen einfachen Hütten.
In seiner Erinnerung hatte er Varennes offenbar tüchtig verklärt. Oder er hatte sich in den vergangenen drei Jahren verändert, und mit ihm sein Blick auf die Welt.
Mit einem Nicken begrüßte er den Wächter, der gelangweilt im Schatten lehnte, und durchquerte das Tor. Was er innerhalb der Stadtmauern vorfand, unterstrich den Eindruck allgemeiner Schäbigkeit noch. Anders als in Mailand war keine einzige Straße gepflastert. Tierkot überzog den Boden aus festgestampftem Lehm, und in den Gassen tummelten sich Schweine und Hühner, die im Staub nach Essensresten und Ungeziefer suchten. Es stank. Die Leute schütteten ihren Abfall einfach aus dem Fenster, weshalb es von Ratten nur so wimmelte. Kaum jemand trug ein ordentlich geschneidertes Gewand; die meisten Menschen kleideten sich in schlichte Leinenkittel in tristen Farben und einfache Lederschuhe mit Holzsohlen, wenn sie nicht gar barfuß gingen. Die allgegenwärtige Armut schockierte Michel.
War das schon immer so? Oder ist es in den letzten drei Jahren schlimmer geworden?
Als er zum Domplatz kam, besserte sich das Bild ein wenig. Hier standen die mächtige Halle der Kaufmannsgilde, die städtische Münze und die Quartiere der wohlhabenden Kaufleute, allesamt aus Stein errichtet. Einige dieser Gebäude brauchten keinen Vergleich mit den Palazzi und Patriziervillen Mailands zu scheuen, allen voran das Haus des Bischofs, das neben der Kathedrale stand. Da der Bischof gleichzeitig der weltliche Herr Varennes’ war, verfügte er über einen imposanten Palast mit wehrhaften Mauern, einem ausgedehnten Garten und mehreren Anbauten, in denen seine Ministerialen, wohnten und arbeiteten.
Der tägliche Markt neigte sich allmählich dem Ende zu. Krämer und Bauern luden ihre Kisten auf Hand- und Ochsenkarren und machten sich müde auf den Heimweg. Vor den letzten offenen Ständen feilschten Händler und Kunden um die verbliebenen Waren, während zwei städtische Aufseher den Unrat zusammenfegten. Michel war zu erschöpft, um nach bekannten Gesichtern Ausschau zu halten, und schlurfte zum Haus seiner Familie.
Es ähnelte den anderen Anwesen am Domplatz und verfügte über ein fensterloses Erdgeschoss aus rußgrauem Stein, das die beiden Obergeschosse trug. Durch einen Torbogen gelangte man in den kleinen Hof, wo sich der Stall mit den Saumtieren und der Schuppen für den Ochsenwagen befand. Es war ein merkwürdiges Gefühl, es nach all den Jahren zu betrachten. Irgendwie erschien es ihm kleiner als bei seinem Abschied. Die Vordertür war nicht verschlossen. Als er sie öffnete, fragte er sich bang, was ihn drinnen erwartete. Gehörte er nach so langer Zeit überhaupt noch hierher?
Doch kaum umfing ihn der unverwechselbare Geruch des Hauses – nach Rauch, Seifenlauge, Teer und den vielfältigen Handelswaren seines Vaters –, verschwanden seine Zweifel und seine üble Laune. Varennes mochte ein schmutziges, kleines Nest sein, doch das änderte nichts daran, dass es ihn glücklich machte, wieder hier zu sein. Wie sehr hatte ihm seine Heimat gefehlt!
»Ist jemand da?«, rief er in den Eingangsraum.
Am oberen Ende der Treppe, die zum ersten Stock hinaufführte, öffnete sich eine Tür, und eine junge Magd erschien. Es war Thérese, die erst wenige Monate im Haus gearbeitet hatte, bevor er fortgegangen war. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn erkannte.
»Junger Herr!«, rief sie schließlich und stürmte die Stufen hinab. »Ihr seid wieder da!«
Michel begrüßte sie lachend. »Wo ist mein Bruder?«
»Im Hof, bei den Pferden.«
Er stellte sein Gepäck auf den Boden und eilte hinaus auf den Hof.
Jean stand vor dem Stall und bürstete ein Packpferd ab. Michel staunte nicht schlecht, als er ihn sah. Obwohl zwei Jahre jünger, war sein Bruder stets der Kräftigere von ihnen gewesen, und seit ihrem Abschied voneinander war er noch massiger geworden. Beeindruckende Muskeln schwollen an
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