Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
seinen Armen, sein Gesicht wirkte ganz und gar nicht mehr jungenhaft, sondern kantig und dank der Bartstoppeln ein wenig rau. Zweifellos: Jean war erwachsen geworden.
»Michel!«, rief er und stürmte seinem älteren Bruder entgegen. »Dem heiligen Jacques sei Dank – endlich! Jeden verdammten Tag in den letzten drei Wochen habe ich gebetet, du mögest bald kommen. Und hier bist du!«
Lachend schlossen sie einander in die Arme. Michel unterdrückte ein Stöhnen. Jean schien die Absicht zu haben, ihn zu erdrücken.
»Heiliger Jesus am Kreuz, du bist ja ein richtiger Kraftprotz geworden.«
»Das macht die Arbeit auf dem Salzschiff«, erklärte Jean. »Bei Gott, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, dich wiederzusehen. Ich habe dich vermisst, Bruderherz. Schrecklich vermisst.«
Michel war nicht wenig gerührt. Jean hatte stets zu ihm aufgesehen, ihn geradezu vergöttert. Daran hatte sich offenbar nichts geändert. »Und ich dich erst.«
»Wie war die Reise? Mühsam, nehme ich an.«
»Mühsam ist gar kein Ausdruck.«
»Du bist doch nicht den ganzen Weg zu Fuß gegangen, oder? Wo hast du Maronne gelassen?«
»Lange Geschichte«, antwortete Michel.
Jean legte ihm die Hände auf die Schultern. »Lass dich anschauen. Gut siehst du aus. Braun gebrannt und kräftig wie ein Feldarbeiter. Das schöne Leben in Italien ist dir anscheinend bekommen. Aber was rede ich – du bist gewiss müde und hungrig. Komm, gehen wir nach oben, damit du dich waschen kannst. Ich kümmere mich darum, dass du etwas zu essen bekommst.«
Im Eingangsraum wurde Michel stürmisch von den restlichen Bediensteten begrüßt. Matenda, die Köchin, drückte ihn an ihre knochige Brust und begann zu schluchzen. Adrien, der alte Pferdeknecht, grinste bis über beide Ohren.
»Das ist Louis«, stellte Jean einen jungen Burschen vor, den Michel noch nicht kannte. »Vater hat ihn letzten Sommer eingestellt.«
Louis lächelte zurückhaltend, als er Michel die Hand reichte, und blickte gleich darauf schüchtern zu Boden.
»Er ist ein guter Kerl«, sagte Jean, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Aber er spricht nicht viel.«
Rasch wusch Michel sich den Staub von der Reise ab und schlüpfte in frische Kleider, die Thérese ihm aus seiner Kammer holte. Kurz darauf saß er mit Jean in der Stube im zweiten Obergeschoss, trank Wein und aß ein wenig von dem frischen Brot, dem Ziegenkäse und dem kalten, gepökelten Fleisch. Viel brachte er nicht hinunter. Es gab zu viele Dinge, die ihm im Kopf herumgingen, über die er mit seinem Bruder sprechen musste.
Er nahm Jeans Brief in die Hand, der vor ihnen auf dem Tisch lag, zerknittert und mitgenommen von der langen Reise. Es gelang ihm nicht, die Frage zu stellen, die ihn am meisten quälte.
»Du willst sicher wissen, wie es passiert ist«, kam Jean ihm zu Hilfe.
Schweigend nickte Michel.
»Vater hat zwei Fässer Salz nach Épinal gebracht. Auf der Rückfahrt, keine halbe Meile vor Varennes, ist das Salzschiff in Stromschnellen geraten und gegen einen Felsen geprallt. Vater muss ins Wasser gefallen sein. Vermutlich hat er sich den Kopf angeschlagen und ist kurz darauf ertrunken. Ein Schäfer fand ihn und brachte ihn auf seinem Karren in die Stadt. Der Medicus konnte nichts mehr für ihn tun.«
Michel schob die Platte von sich – der Appetit war ihm endgültig vergangen. Seine Augen brannten, und er blickte seinen Bruder an, dessen Gesicht grau vor Trauer war.
»Es ist alles meine Schuld«, murmelte Jean. »Wenn ich ihn begleitet hätte, wäre das nicht passiert. Dann hätte ich auf den Fluss achten können, während er das Boot steuert.«
»Es war nicht Eure Schuld«, widersprach Matenda entschieden, als sie einen Krug mit Wasser auf den Tisch stellte und Handtücher danebenlegte. »Ihr wart krank und lagt mit Fieber im Bett.«
»Es war nur ein leichtes Fieber. Ich hätte trotzdem mitgehen sollen.«
»Euer Vater hat aber darauf bestanden, dass Ihr Euch auskuriert. Jetzt hört auf, so zu reden. Was sich an jenem Tag zugetragen hat, war Gottes Wille. Es steht uns nicht zu, damit zu hadern.« Die Köchin bekreuzigte sich und verließ mit gesenktem Blick die Stube.
Michel konnte nichts dagegen tun, dass sich seine Augen mit Tränen füllten. Ihr Vater war immer so umsichtig gewesen. Wie hatte das nur geschehen können? »Ihr habt ihn auf dem Friedhof von Saint-Pierre begraben, nehme ich an?«
»Pater Jodocus hat die Messe gelesen, und es waren alle da, die Nachbarn, die
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