Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
erbten Jean und er den gesamten väterlichen Besitz. Nach altem Recht war es üblich, dass Michel als der ältere Sohn das Erbe durch zwei teilte und Jean als der jüngere seine Hälfte auswählen durfte, freilich erst, nachdem sie den Freiteil an die Kirche entrichtet hatten. Allerdings war das in ihrem Fall nicht praktikabel. Da es ihres Vaters Wunsch gewesen war, dass sie das Familiengeschäft gemeinsam weiterführten, konnten sie das Erbe nicht einfach halbieren. Sie mussten einen Weg finden, die Einheit von Grund und Boden, Haus, Vieh und Vermögen zu wahren, denn eine Zersplitterung des Erbes würde dem Geschäft schaden, es schlimmstenfalls ruinieren.
»Pater Jodocus hat angeboten, uns beim Aufteilen des Erbes zu helfen«, sagte Jean, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Wenn du einverstanden bist, bitte ich ihn morgen zu kommen.«
»Ja, eine gute Idee«, erwiderte Michel. Jodocus, der Pfarrer von Saint-Pierre, war seit vielen Jahren der Beichtvater der Familie, er hatte sie als Kinder unterrichtet und kannte sie so gut wie kaum jemand sonst. Obendrein war er ein kluger und besonnener Mann. Gewiss fanden sie mit seiner Hilfe eine weise und gerechte Lösung.
Er ging zur Tür gegenüber der Stube.
»Vaters Kammer sieht noch genauso aus wie vor drei Jahren«, sagte Jean.
Michel wollte sie trotzdem sehen. Er öffnete die Tür und betrat den Raum, in dem ihr Vater gearbeitet hatte, wenn er nicht auf Reisen gewesen war. Schweigend betrachtete er die Regale mit den Schriftstücken, das silberne Kruzifix über der Tür und die eisenbeschlagenen Truhen.
An dem schweren Tisch vor dem Fenster hatte Rémy stets Buch über seine Geschäfte geführt und Briefe an Freunde und Geschäftspartner in fernen Städten verfasst. Auf dem Rechenbrett hatte er seine Einnahmen gezählt und mit der Münzwaage auswärtige Silberpfennige gewogen, bis seine Söhne alt genug gewesen waren, diese Arbeit zu übernehmen. Die Erinnerung an all das war so lebendig, dass Michel beinahe das Knistern des Pergaments und das Klimpern der Münzen hören konnte.
Langsam schritt er durch die Kammer, strich über Möbelstücke, das festgebackene Wachs auf dem Tisch, berührte den Federkiel, den Kerzenhalter und all die anderen Gegenstände, die sein Vater jeden Tag benutzt hatte. »Zeigst du mir sein Grab?«
»Es wird bald dunkel. Ich dachte, dass wir morgen auf den Friedhof gehen.«
»Ich möchte es jetzt sehen, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Natürlich«, sagte Jean, klopfte ihm auf die Schulter und ging voraus.
Bis Saint-Pierre, der Kirche ihrer Pfarrei, war es nur ein Katzensprung. Als die Klosterglocken gerade zur Komplet riefen, öffneten sie das schmiedeeiserne Tor und traten auf den Friedhof, der vor dem Gotteshaus lag.
Stille herrschte innerhalb der von Kletterpflanzen überwucherten Mauern, die den kleinen Totenacker begrenzten, denn so spät am Abend waren sie die einzigen Besucher. Bäume breiteten ihre Äste über die Gräber und Beinhäuser, drei uralte Birken, jede so krumm und verwachsen wie ein klappriger Tattergreis. Michel blickte zur Kirche, während er Jean folgte. Im Innern des Altarraums stand ein kleiner Reliquienschrein mit einem Blutstropfen des heiligen Jacques, dessen Leichnam im Dom begraben lag. Zu wissen, dass ein Märtyrer seine schützende Hand über die letzte Ruhestätte ihres Vaters hielt, verschaffte Michel ein wenig Trost.
»Hier ist es«, sagte Jean.
Michel kniete sich neben die aufgeworfene Erde und las die lateinische Inschrift, die seine Geschwister auf dem Grabstein hatten anbringen lassen.
Unter dem Schutz der Märtyrer suchet die ewige Ruhe.
Der heilige Jacques wacht über diesen Platz, verbannt die Finsternis und verbreitet einen Schimmer des wahren Lichts.
Hier ruht Rémy de Fleury, Kaufmann und Schwurbruder der Gilde, gestorben am 11. April 1187 a. D.
Friede seiner Seele
Eine gute Inschrift. Michel nahm etwas Erde in die Hand und ließ sie durch seine Finger rieseln, während er sich in Erinnerungen verlor.
Sein Vater war einer der mutigsten Männer gewesen, die er kannte. Niemals hatte er aufgegeben, und waren die Umstände noch so hart gewesen. Michel wusste, wie viel er ihm verdankte. Ohne seinen Vater wäre er jetzt Bauer in Fleury, rechtlos, unwissend und arm. Ohne ihn hätte er nie lesen und schreiben gelernt, hätte er nie die Welt außerhalb seines Dorfes kennengelernt und die Wunder Mailands gesehen. Sein Vater hatte ihn zu dem Mann gemacht, der er heute war. Das war sein
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