Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
grasige Wellen über das Land rollten. Er hatte ganz vergessen, wie grün Oberlothringen war, verglichen mit den sonnenverbrannten Ebenen der Lombardei. Saftige Wiesen, Weideland für Rinder und Schafe, bedeckten die Hänge. Bäche zwängten sich schäumend durch enge Einschnitte, gesäumt von wilden Mischwäldern. Auf Gehöfte und Weiler traf man abseits der Handelsrouten nur selten. Die meisten Menschen siedelten am Ufer der Mosel, in Marktflecken und kleinen Städten. Zwei Meilen weiter im Westen konnte Michel eine Burg erkennen, die auf einer Anhöhe thronte. Sie gehörte Renard de Guillory, jenem Ritter, der die Gegend südlich von Varennes-Saint-Jacques beherrschte.
Weiter im Norden, verborgen hinter den Hügeln, lag Fleury, Michels Geburtsort. Seit ihrer Flucht in jener Dezembernacht war er nicht mehr dort gewesen. Während ihres ersten Jahres in Varennes hatte Guiscard de Thessy noch zweimal versucht, sie einzufangen und auf sein Land zurückzubringen, doch dank der tatkräftigen Hilfe von Herrn Caron war es ihm beide Male nicht gelungen. Nach einem Jahr und einem Tag in der Stadt waren sie schließlich frei geworden, wie es das alte Recht des Römischen Reiches vorschrieb, und von da an hatte de Thessy sie in Ruhe gelassen. Michel hätte gerne gewusst, was aus dem bösartigen Ritter geworden war. Ob er wohl noch lebte?
Zahllose Erinnerungen erwachten beim Anblick der Wiesen und Wälder. Hier hatte er seine Kindheit verbracht, seine Jugend, seine ersten Jahre als Erwachsener. Unaufhaltsam wanderten seine Gedanken zu seinem Vater, und der Schmerz flammte von Neuem auf, so machtvoll und erdrückend wie in seiner letzten Nacht in Mailand. Wie oft hatte er Jeans Brief seitdem gelesen, wie oft hatte er die törichte Hoffnung gehegt, es wäre alles nur ein Irrtum, jemand erlaubte sich einen grausamen Scherz mit ihm, und sein Vater wäre noch am Leben. Doch tief im Innern wusste er: Es war kein Scherz, kein böser Traum – sein Vater war tot. Tot.
Plötzlich verspürte er den überwältigenden Wunsch heimzukehren, Jean zu sehen, das Haus ihrer Familie. Trotz der Müdigkeit stand er auf, sammelte sein Gepäck ein und schlurfte zu seinem Pferd.
»Komm«, murmelte er und kraulte Maronnes Mähne. »Wir haben lange genug gerastet. Bringen wir es hinter uns.«
Ein Rascheln von Blättern und Zweigen ließ ihn herumfahren. Zwei Männer brachen aus dem Unterholz hinter dem Sühnekreuz. Sie hielten Spieße in den Händen und trugen genagelte Stiefel, Lederhauben und breite Gürtel, an denen jeweils ein Dolch hing. Räuber!, durchfuhr es Michel, bevor er die Waffenröcke der Männer bemerkte. Auf dem roten Stoff prangte ein schwarzer Wolf, der zum Sprung ansetzte: das Wappen Renard de Guillorys.
Die beiden Waffenknechte musterten ihn, und einer rief über die Schulter: »Hier drüben, Herr!«
»Was wünscht ihr?«, erkundigte sich Michel.
»Das wirst du gleich sehen«, antwortete einer der Männer schroff. Wie die meisten Bewohner des Herzogtums sprach er Lothringisch, einen französischen Dialekt mit deutschen Einsprengseln.
»Ich habe einen langen Weg hinter mir und möchte nach Hause. Wenn ihr mir nicht sagen wollt, wie ich euch und eurem Herrn zu Diensten sein kann, besteige ich nun mein Pferd und reite weiter.«
»Nichts da. Schön hiergeblieben.« Der Waffenknecht ergriff Maronnes Zügel.
Verärgert biss Michel die Zähne zusammen. Er hätte diesem Kerl gern für seine Unverschämtheit die Meinung gesagt, doch es war klüger, sich zu fügen. Er befand sich auf dem Land Renard de Guillorys, und der alte Ritter war für sein aufbrausendes Wesen berüchtigt. Wer sich ihm widersetzte, machte unter Umständen Bekanntschaft mit seiner Reitpeitsche.
Zwei weitere Soldaten kamen aus dem Gebüsch, gefolgt von ihrem Herrn, bei dem es sich zu Michels Überraschung nicht um Renard handelte. Der Mann war nicht viel älter als er, aber wesentlich größer und breiter, ein wahrer Riese mit prankenhaften Händen und gewaltigen Füßen. Trotz seiner wuchtigen Erscheinung sah er äußerst gut aus, bedingt durch den muskulösen Körperbau und die markanten Gesichtszüge. Ein sauber gestutzter Bart zierte sein Kinn, und die kurzen, lockigen Haare leuchteten im Sonnenschein wie Kupfer. Er trug Jagdkleidung, dazu einen Köcher mit Bolzen am Gürtel und eine Armbrust auf dem Rücken.
»Wen haben wir denn da, Berengar?«, fragte er einen der Waffenknechte.
»Michel de Fleury, Kaufmann aus Varennes-Saint-Jacques«, stellte Michel
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