Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
prächtigen Jungen großgezogen. Deine Fähigkeiten sind vierundzwanzigkarätiges Gold, wie mein alter Oheim zu sagen pflegte. Warte … ich habe etwas für dich. Ich wollte es dir eigentlich erst in einem Monat geben, wenn sich deine Ankunft in Mailand zum dritten Mal jährt, aber nun ist es eben mein Abschiedsgeschenk.« Er winkte den Dienern, die wie stumme Statuen im Schatten warteten. Fulvio trat vor und überreichte Michel ein Buch, eine kostbare Handschrift, in Leder gebunden.
»Die Consolatio philosophiae von Boethius«, erklärte Agosti. »Ich habe sie eigens für dich anfertigen lassen. Ich weiß ja, wie sehr du Bücher liebst.«
Michel schlug die Handschrift auf und strich mit den Fingerkuppen über die Seiten voller Ornamente und Miniaturen. Ein prachtvolles Geschenk. »Ich danke Euch, Messere. Für alles.«
»Denk an mich, wenn du es liest. Und gib gut auf dich acht. Es ist ein langer Weg nach Oberlothringen.«
Michel schlug das Buch in eine Decke ein und verstaute es in der Satteltasche. »Ihr wart mir ein guter Lehrer.« Er stieg auf und ergriff die Zügel, woraufhin Maronne leise schnaubte. »Lebt wohl, mein Freund.«
Juni 1187
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
E in altes Sühnekreuz wuchs aus dem Unkraut am Wegesrand. Wind und Wetter hatten im Laufe vieler Jahre die Konturen abgeschliffen, und eine Inschrift im verwitterten Stein kündete von einem längst vergessenen Verbrechen: eine ewige Mahnung an Reisende, das Recht dieses Landes zu achten.
Irgendwo am Waldrand entsprang ein Bach und floss plätschernd durch eine Furche im Gras, kaum sichtbar unter all dem Farn und Brombeergestrüpp. Gemächlich ritt Michel den Pfad entlang. Es war ein heißer Junitag. Pferd und Reiter waren müde.
»Hab Geduld, es ist nicht mehr weit.« Michel klopfte Maronne auf den Hals. »In drei oder vier Stunden sind wir zu Hause.«
Die Stute schnaubte.
»Du hast ja recht. Lass uns rasten.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Hitze ist wirklich unerträglich, und auf eine Stunde mehr kommt es wirklich nicht an.«
Neben dem Sühnekreuz stieg Michel aus dem Sattel. Er nahm Maronne die Ledertaschen mit seinem Gepäck ab, führte die Stute zum Bach und tränkte sie. Wams und Bruche klebten ihm am Leib. Er setzte sich im Schatten des Steinkreuzes auf die Böschung, zog die Stiefel aus und tauchte seine dampfenden Füße in das Quellwasser.
»Ahh! Herrlich. Es tut gut, wieder daheim zu sein, nicht wahr?«
Michel wusste, dass es nicht gerade von Vernunft zeugte, mit einem Pferd zu sprechen, aber es war nun einmal eine lieb gewordene Eigenart, die er sich auf seinen Handelsreisen in Messere Agostis Diensten angewöhnt hatte. Nachdem Maronne ihren Durst gestillt hatte, fraß sie das Unkraut. Das erinnerte Michel daran, dass er seit Ewigkeiten nichts gegessen hatte. Er öffnete eine der Taschen, nahm einen Schluck aus der Trinkflasche und holte seinen Proviant hervor. Während er an einem Brotkanten kaute, überprüfte er den Zustand seiner Habseligkeiten. Er reiste mit wenig Gepäck. Die Taschen enthielten lediglich etwas Wegzehrung, seine lederne Geldkatze, Ersatzkleidung, zwei Decken, Jeans Brief und die Consolatio philosophiae von Messere Agosti. Zu seiner Erleichterung hatte das kostbare Buch die Reise unbeschadet überstanden. Sein Schwert hing noch am Sattel. Wie jeder erfahrene Kaufmann machte auch Michel auf seinen Reisen stets von dem königlichen Privileg Gebrauch, eine Waffe mitzuführen, denn in der Wildnis fernab menschlicher Ansiedlungen lauerten mannigfaltige Gefahren, Wegelagerer, Vogelfreie und Raubtiere. Glücklicherweise hatte er die Klinge noch nie gebraucht.
Michel streckte sich aus und bettete seinen Kopf auf eine der Decken. Die Erschöpfung steckte ihm tief in den Gliedern. Er war mit Maronne seit mehr als drei Wochen unterwegs. Von Mailand aus hatte er die Handelsstraße nach Aosta genommen und die Alpen überquert, stets ein beschwerliches und langwieriges Unterfangen, sogar im Sommer, wenn kein Schnee die Pässe blockierte. Von Lausanne aus war er viele Tage nach Norden geritten, quer durch Burgund, und seit anderthalb Tagen nun befand er sich in Oberlothringen, dem Herzogtum im äußersten Westen des Heiligen Römischen Reiches – Michels Heimat.
In seinem Rücken erstreckten sich die westlichen Ausläufer der Vogesen; vor ihm lag das Moseltal. Er strich die Brotkrümel von seinem Wams, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und betrachtete schläfrig die Hügel, die wie
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