Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
hinten? Geht rechts daran vorbei, und Ihr könnt es nicht verfehlen.«
Michel dankte ihm und bat die Söldner, hier auf sie zu warten. Isabelle und er verließen die Herberge und schritten die Straße entlang.
»Nur die Ruhe«, sagte sie. »Du schaffst das schon.«
»Natürlich schaffe ich das«, gab er zurück. »Wieso sollte ich es nicht schaffen?«
Isabelle lächelte nur.
Sélestat stand unter der Herrschaft einer bedeutenden Propstei, war jedoch um einiges kleiner als Varennes. Die Stadt besaß eine befestigte Königspfalz, aber keine Wehrmauer, und die Steinhäuser im Ortskern konnte man an zwei Händen abzählen. So fiel es ihnen nicht schwer, die Rue des Marchands zu finden. Wenig später standen sie vor Meister Rabels Werkstatt.
»Soll ich Rémy holen, oder möchtest du hineingehen?«, fragte Isabelle.
»Wir gehen hinein.« Er öffnete die Tür.
Im Vorraum roch es nach Leim und frischen Farben. Frisch bemalte Pergamentbögen hatte man auf Holzgestellen zum Trocknen ausgelegt. Auf einem entdeckte Michel Rémys Markenzeichen, das verschlungene R. Der Junge hatte meisterliche Arbeit geleistet.
Plötzlich begann sein Herz heftig zu pochen. Verdirb es ja nicht!
Ein Mann in einem weinroten Gewand und mit sauber gestutztem Vollbart kam aus dem Nebenraum. »Ihr wünscht?«, fragte er mit sonorer Stimme.
»Meister Rabel?« Als der Buchmaler nickte, stellte Michel sich vor. »Ich möchte meinen Sohn sprechen.«
»Ich habe keinen Lehrling oder Gesellen dieses Namens.«
»Er heißt Rémy«, sagte Isabelle.
»Rémy?«, wiederholte der Buchmaler. »Aber er sagte, er habe keine Eltern.«
»Könnt Ihr ihn bitte holen?«, bat Michel den Meister.
Rabel musterte sie argwöhnisch, bevor er sich zur Werkstatt umwandte. »Rémy! Du hast Besuch.«
Der Junge erschien in dem Durchgang. Er trug einen Kittel aus grober Wolle und hatte Farbe an den Fingern. Das Haar hatte er kurz geschnitten, und er war gewachsen – und wie. Bestimmt einen halben Spann.
»Mutter!« Sein Gesicht verfinsterte sich, als er Michel erblickte. »Ich hatte dich doch gebeten, ihm nichts zu sagen.«
»Dein Vater möchte mit dir reden«, sagte Isabelle.
»Er ist nicht mein Vater!«
Meister Rabel stand daneben und hörte schweigend zu, doch sein Mienenspiel ließ keinen Zweifel daran, dass er einschreiten würde, sollte sein Lehrling in Schwierigkeiten geraten. Michel fasste sich ein Herz und trat vor.
»Hör zu, Rémy. Ich habe viel falsch gemacht. Dafür bitte ich dich um Verzeihung.«
»Du hast mich geschlagen und meine Sachen aus dem Fenster geworfen.«
»Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich habe mich vergessen.« Michel schwieg einen Moment. Diese Worte auszusprechen fiel ihm schwerer als gedacht. »Nimmst du meine Entschuldigung an?«
»Ich gehe nicht zurück nach Varennes.«
»Das verlangt niemand von dir. Du sollst tun, was dir bestimmt ist.«
»Ich bleibe hier und werde Buchmaler.«
Michel nickte. »Wenn das dein Wunsch ist.«
Rémy stand da und blickte Hilfe suchend zu seiner Mutter, dann zu Meister Rabel.
»Komm«, sagte der Buchmaler. »Wir zeigen deinem Vater, woran du gerade arbeitest.«
Sie betraten die Werkstatt, in der ein halbes Dutzend Männer Pergamente zuschnitten, Texte abschrieben und die Seiten mit Miniaturen bemalten. Abgesehen vom leisen Murmeln der Kopisten und dem Kratzen der Schreibfedern herrschte eine konzentrierte Stille.
Meister Rabel führte sie zu einem Pult, auf dem eine aufgeschlagene Bibel neben einem Pergamentbogen lag. »Euer Sohn hilft mir bei einem Auftrag für den Erzbischof von Straßburg. Er überträgt den Text und legt die Überschriften an. Ich mache anschließend die Miniaturen.«
Obwohl die Seite noch lange nicht fertig war, sah Michel, dass sie einmal ein kleines Kunstwerk werden würde. In Reih und Glied marschierten sorgfältig gezeichnete Lettern über das Pergament – eine makellose Komposition. »Es ist wundervoll.«
»Rémy ist der beste Lehrling, den ich je hatte«, erklärte Rabel. »Noch drei, vier Jahre, und er steckt uns alle in die Tasche.«
Seit Michel von Rémys Brief wusste, fragte er sich, wie es dem Jungen gelungen war, einen Meister dazu zu bringen, ihn als Lehrling aufzunehmen. Das Lehrgeld hatte er gewiss von dem Silber bezahlt, das er Michel gestohlen hatte, aber damit war es nicht getan. Jeder neue Lehrling musste einen Geburtsbrief vorlegen, um seine ehrbare Herkunft und seinen untadeligen Leumund nachzuweisen, besonders, wenn er aus einer fremden Stadt
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