Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
flackerte ein kaltes Feuer in seinen Augen auf.
Das ist für Jean, dachte Michel. Für Pierre. Für Varennes.
»Kniet nieder«, befahl Ferry.
»Lieber sterbe ich, als mich Euch zu unterwerfen«, sagte de Guillory, ohne den Blick von Michel zu nehmen.
Ferry ließ sich von einem seiner Männer eine dreischwänzige Geißel geben, holte aus und zog sie de Guillory mit voller Wucht durchs Gesicht. Der Ritter schrie nicht und keuchte nicht einmal, obwohl ihm die Riemen die Wange aufgerissen hatten.
»Fleht um Verzeihung«, forderte Ferry.
»Nein.«
Der Edelmann prügelte auf de Guillory ein, bis dieser blutend und geschunden am Boden lag. »Ich verfluche Euch, de Bitche«, krächzte er. »Und Euch, de Fleury, verfluche ich auch.«
»Legt ihn in Eisen und schafft ihn weg«, sagte Ferry, woraufhin Knechte mit Ketten und Fußschellen herbeieilten. Nachdem sie de Guillory gefesselt hatten, stießen sie ihn zu einem Wagen und zwangen ihn, auf die Pritsche zu klettern. Ein Soldat nagelte die Ketten fest, sodass de Guillory mit ausgebreiteten Armen auf dem Wagen kauerte. Anschließend stülpte man ihm einen Sack über den Kopf.
Stille lag über der Wiese, dem Hügel, der Burg.
»So ergeht es jedem, der die Familie de Bitche und das Haus Châtenois herausfordert!«, donnerte Ferry, und die Männer jubelten abermals.
Der Wagen fuhr los. Michel spuckte aus, setzte seine Mütze auf und ging zu seinem Pferd.
Juli 1204
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
F erry de Bitche ließ einen Teil seiner Männer in der Burg, zog mit dem Rest der Streitmacht nach Varennes und quartierte sich im ehemaligen Bischofspalast ein. Da er nicht befugt war, über das weitere Schicksal der Stadt zu entscheiden, schickte er nach seinem Vater. Ferry der Ältere kam einige Tage nach Peter und Paul aus Nancy, doch er war nicht allein: Sein Bruder Simon begleitete ihn. Trotz seiner schweren Krankheit hatte der alte Herzog ein letztes Mal sein Ruhelager verlassen, um die Zukunft Varennes’ zu regeln.
Simon Châtenois, dieser einst so stolze Mann, war nur noch ein Schatten seiner selbst: grau, dünn und ausgemergelt. Statt des Kettenhemdes, das er früher nur zum Schlafen und Baden abgelegt hatte, trug er ein dünnes Gewand. Es hing wie ein Leichentuch um seinen knochigen Körper. Obwohl der Herzog Mühe hatte, länger als eine halbe Stunde auf seinem Lehnstuhl zu sitzen, bestand er darauf, alle Verhandlungen mit dem Schöffenkollegium, der Gilde, den Bruderschaften, dem Domkapitel und den Pfarreien selbst zu führen. Da er sich in regelmäßigen Abständen zurückziehen und ruhen musste, dauerten die Gespräche mehrere Tage.
Simon erwies sich einmal mehr als gerechter Herrscher und nahm die Nöte der Bürgerschaft ernst. Sämtliche Steuern, Marktzölle und Abgaben senkte er auf jene Sätze, die gegolten hatten, bevor de Guillory sie maßlos in die Höhe getrieben hatte. Mit Brief und Siegel sicherte er Gilde und Bruderschaften zu, sie mindestens sieben Jahre lang nicht zu erhöhen, damit Varennes sich wirtschaftlich erholen konnte.
Obwohl Ferry der Jüngere ein gutes Wort für die Städter einlegte, entließ Simon sie nicht in Freiheit und Selbstverwaltung, wie Michel insgeheim gehofft hatte. Er entschied, Varennes zu behalten und vorerst nicht einem seiner Vasallen als Lehen zu geben. Das Schöffenkollegium, das unter de Guillory in der Bedeutungslosigkeit versunken war, erhielt seine früheren Befugnisse zurück. Simon besetzte es mit zwölf ausgewählten Ministerialen, die die Stadt verwalten und die niedere Gerichtsbarkeit ausüben sollten.
Als Michel von den Absichten des Herzogs erfuhr, ersuchte er ihn um ein Gespräch. Simon empfing ihn am frühen Abend in den ehemaligen Amtsräumen von Bischof Ulman, wo er zusammengesunken am Tisch saß und Dokumente studierte. Da sein Augenlicht getrübt war, ließ er sich die Urkunden von einem Rechtsgelehrten vorlesen.
Michel erschrak, als er eintrat und sich verneigte. Die vergangenen Tage hatten Simon sichtlich zugesetzt. Man konnte förmlich zusehen, wie er körperlich verfiel.
»Ihr wünscht, Herr Gildemeister?« Allein seine Stimme besaß noch ihre einstige Kraft.
Michel beschloss, gleich zur Sache zu kommen, um den Herzog nicht über Gebühr zu belasten. »Wie Ihr wisst, hat uns Kaiser Friedrich einst den Bau einer zollfreien Brücke gestattet. Da de Guillory sie zerstört hat …«
»Das ist ein Verdacht, der keineswegs bewiesen ist. Fest steht nur, dass sie abgebrannt ist. Wer oder was
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