Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
müssen niemandem Treue schwören – sie regieren sich selbst. Jedes Jahr wählen sie ein Kollegium, das über alle Belange der Stadt entscheidet, und sogar der Kaiser muss ihre Eigenständigkeit respektieren.«
»Ich weiß. Ich bin vor Jahren mit Vater dort gewesen«, sagte Gaspard. »Ich schätze, unser kleines Varennes kommt dir jetzt wie ein schmutziges Bauerndorf vor, nun, da du Mailand gesehen hast.«
Michel ärgerte sich ein wenig über seine unbedachte Schwärmerei. Er wusste doch, wie viel ihre Heimatstadt seinem Freund bedeutete. »Mailand mag größer und reicher sein, aber Varennes ist und bleibt Varennes«, erwiderte er lahm, denn er konnte nicht verleugnen, dass Gaspards Bemerkung ins Schwarze traf: » Was für ein schmutziges Nest« , war schließlich genau das, was er gestern bei seiner Ankunft gedacht hatte.
»Erzähl mir von dir«, wechselte er das Thema. »Was hast du getrieben, während ich fort war?«
»Ich habe geheiratet«, antwortete Gaspard lächelnd.
»Wirklich?« Michel hörte davon zum ersten Mal. Wie er selbst war auch Gaspard kein großer Briefeschreiber, und sie hatten einander in den vergangenen drei Jahren nur ein-, zweimal geschrieben. »Wen?«
»Ihr Name ist Lutisse. Sie ist die älteste Tochter eines reichen Tuchhändlers aus Nancy. Mein Vater hat unsere Familien zusammengebracht, kurz bevor er starb.«
»Seid ihr glücklich?«
»Ich kann nicht klagen. Lutisse ist zwar keine Schönheit, aber dafür hat sie große Brüste und versteht ihr Handwerk im Bett. Was will ein Mann mehr?«
Ihr Gelächter schallte durch das Badehaus.
»Du bist zu beneiden. Auf euer Eheleben!«, sagte Michel, und sie stießen mit ihren Bechern an. »Hat sie dir schon Kinder geschenkt?«
Ein Schatten huschte über Gaspards Gesicht. »Letzten Herbst hat Lutisse Zwillinge geboren, zwei Mädchen, aber sie sind kurz nach der Geburt gestorben. Niemand weiß, warum – der Medicus konnte nichts tun.«
»Das tut mir sehr leid«, murmelte Michel betroffen.
»Seitdem beten wir jeden Tag, dass uns der Herr noch ein Kind schenkt. Ich wünschte mir so sehr einen gesunden Jungen …« Gaspard trank noch einen Schluck Wein und räusperte sich. »Um auf Varennes zurückzukommen … Vielleicht ist es dir schon aufgefallen: Es steht nicht gut um unsere Stadt.«
»Was ist geschehen?«
»Hat dein Vater dir denn nie geschrieben?«
Michel konnte sich an einige allgemein gehaltene Klagen über die schwierige geschäftliche Lage in Varennes erinnern, aber die Briefe seines Vaters waren, was das betraf, immer sehr vage gewesen – vermutlich, weil er seinen Sohn in der Ferne nicht mit seinen Sorgen belasten wollte. »In seinen Briefen ging es immer nur um die Familie, fast nie um die Stadt.«
»Es wird immer mühsamer, Handel zu treiben. Schuld daran ist Aristide de Guillory. Seit zwei Jahren macht er uns das Leben schwer.«
Michels Hand krampfte sich um den Becher. »Inwiefern?«
»Vor einem Jahr ist sein Vater, der alte Renard, gestorben. Jetzt besitzt Aristide die Burg und das ganze Land und damit auch die Moselbrücke zur Saline. Er ist verschwendungssüchtig und immerzu in Geldnot, weil er ständig mit seinen Nachbarn in Fehde liegt, besonders mit Nicolas de Bézenne.«
De Bézenne war ein Ritter und Vasall Herzog Simons und besaß Land und ein kleines Gut östlich der Mosel. Michels Vater hatte hin und wieder Geschäfte mit ihm gemacht.
»Um seine maßlosen Ausgaben zu decken, etwa für den wahnwitzigen Ausbau seiner Burg, erhöht de Guillory ständig die Zollgebühren an der Brücke«, sagte Gaspard, der sich allmählich in Rage redete. In ihm steckte ein Hitzkopf, was man angesichts seiner aristokratischen Erscheinung leicht vergaß. »Der alte Renard hat sich noch mit vier von hundert Teilen zufriedengegeben, aber inzwischen sind wir bei fünfzehn von hundert – wohlgemerkt auf alle Waren, die über die Brücke transportiert werden. Nicht nur auf das Salz von der Saline, auch auf die Vorräte, Kleider und Werkzeuge, die wir den Bornknechten liefern.«
»Fünfzehn von hundert!«, wiederholte Michel bestürzt. Ein Zoll dieser Höhe grenzte an Straßenraub. Und umgehen konnte man ihn nicht – der einzige Weg zur Saline führte über de Guillorys Brücke, die einzige Moselbrücke weit und breit. Aufgrund der steilen Ufer und der Stromschnellen konnte man das Salz auch nicht per Boot über den Fluss transportieren.
»Der Zoll ruiniert jedes Geschäft«, sagte Gaspard. »Außerdem benimmt sich der Kerl
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