Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Garn, gegerbte Tierhäute, Bienenwachs, Wein und ein halbes Dutzend Ballen Schafswolle.
Wäre ihr Vater nicht verunglückt, hätte er die Waren auf dem Markt in Metz verkauft, wo Güter aus Varennes und dem südlichen Moseltal begehrt waren. Michel beschloss, es genauso zu machen. Metz war nicht allzu weit entfernt – eine Reise dorthin barg überschaubare Risiken und brachte ihnen mit etwas Glück genug Geld für die nächsten ein, zwei Monate ein. Mit Adriens und Louis’ Hilfe trugen sie die Fässer, Kisten und Wollballen nach oben, damit sie die Waren gleich morgen früh auf den Ochsenwagen laden und zum Salzschiff bringen konnten.
Anschließend zog sich Michel in die Schreibstube zurück und verschaffte sich einen Überblick über die geschäftlichen Aufzeichnungen. Sein Vater hatte alles aufgeschrieben, was ihm wichtig für das Geschäft erschienen war: Michel fand Notizen über alle erdenklichen Waren und ihre Preise auf den jeweiligen Märkten; über Angebot und Nachfrage von Salz und anderen Gütern; über die Zölle auf dieser und jener Straße und Brücke; über Gefahren und Hindernisse auf den verschiedenen Handelsrouten; über die Besonderheiten einzelner Messen in Deutschland und Frankreich; über die Wetterverhältnisse in der Fremde; über drohende Kriege und Fehden, die den Handel beeinträchtigen könnten; über das Geschäftsgebaren seiner Freunde und Rivalen; über Gerüchte, die er vernommen hatte. Wenngleich vieles davon veraltet und nutzlos war, las Michel die Notizen dennoch aufmerksam. Sein Vater und Messere Agosti hatten ihn gelehrt, dass Kenntnisse aller Art, selbst obskure Informationen, für einen Kaufmann äußerst wichtig waren, dass sie über Erfolg und Misserfolg eines Handels entschieden, mitunter gar über Leben und Tod.
Außerdem hatte sein Vater Listen über seine getätigten Geschäfte sowie über seine Einnahmen und Ausgaben angelegt, so wie er es einst bei Herrn Caron gelernt hatte. Als Michel sie durchsah, stellte er fest, dass die meisten lücken- und sogar fehlerhaft waren. Das lag nur zum Teil daran, dass sein Vater kein gebildeter Mann gewesen war und erst spät lesen und schreiben gelernt hatte. Außerhalb Italiens verstand sich kaum ein Kaufmann darauf, ein übersichtliches Verzeichnis seiner Geschäfte zu führen. Viele begnügten sich mit ungeordneten Notizen oder schrieben schlicht gar nichts auf. Die Gefahr, sich deswegen zu verrechnen und infolgedessen Geld zu verlieren, war groß. Michel beschloss daher, bei allen künftigen Geschäften die metodo italiano zu benutzen, die fortschrittliche Kunst der Buchführung, die er in Mailand gelernt hatte. Sie ermöglichte es einem Kaufmann, auf einen Blick zu sehen, wie viel Geld, Waren und Zinseinnahmen durch Grundbesitz er besaß, was das Führen eines Geschäfts ungemein erleichterte.
Zu guter Letzt holte Michel die Pfennig- und Schillingmünzen aus der Truhe und zählte sie mithilfe des Rechenbrettes. Wenigstens was das Barvermögen der Familie betraf, waren die Aufzeichnungen seines Vaters korrekt: Er hatte ihnen genau sechzig Pfund Silber und elf Deniers vermacht. Zuzüglich seiner Ersparnisse aus Mailand und abzüglich des Freiteils und der zweiundzwanzig Sous, die Géroux gefordert hatte, besaß die Familie noch ein Vermögen von knapp elf Pfund.
Das war eine Menge Geld – für einen Handwerker oder Bauern. Nicht aber für einen Kaufmann. Michel hatte hohe laufende Kosten: Er musste vier Bedienstete bezahlen, ernähren und kleiden und Futter für das Vieh und die Saumtiere beschaffen, hauptsächlich teuren Hafer für die Pferde. Das Haus musste gepflegt werden – bei einem Gebäude dieser Größe fielen immer irgendwo Reparaturen an. Er musste jetzt schon Rücklagen bilden, damit die Hausgemeinschaft im Winter, wenn monatelang kein Handel möglich war, keinen Hunger leiden und frieren musste, weil er sich weder Essen noch Feuerholz leisten konnte. Zu Michaeli wurden ferner weitere Abgaben fällig, die Herdsteuer und der Zehnt für seine Pfarrkirche – auch dafür musste er Geld zurücklegen. Außerdem erwartete man in der Stadt und der Gilde, dass er standesgemäß lebte. Wenn Jean und er nur in abgetragenen Kleidern herumliefen und wochenlang nichts als trockenes Brot und Gerstenbrei aßen, sprach sich das herum, und die Leute würden sich bald zu Recht fragen, ob die Brüder überhaupt imstande waren, ein Geschäft zu führen.
Nein, sie hatten keine Wahl: Sie mussten so schnell wie möglich anfangen,
Weitere Kostenlose Bücher