Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Handel zu treiben und Geld zu verdienen, sonst wären sie spätestens zu Michaeli ruiniert. Michel hätte zwar gern in Ruhe um seinen Vater getrauert, bevor er sich dem Geschäft widmete, doch dafür blieb keine Zeit.
Alles nur wegen Martel. Einmal mehr verfluchte er den Schultheißen, während er das Geld in der Truhe verstaute.
Als kurz darauf die Klosterglocken zur Vesper riefen, machte er sich auf den Weg zu Gaspard. An der Tür empfing ihn Isabelle und bat ihn lächelnd herein.
»Ist Gaspard oben im Saal?«, erkundigte er sich.
»Er hat noch in der Abtei Longchamp zu tun. Aber er kommt sicher gleich.«
»Bin ich zu früh? Ich könnte schwören, er hat mich zur Vesper eingeladen.«
»Ihr seid pünktlich. Mein Bruder hat sich verspätet – wieder einmal.«
»Was ist mit Pérouse, Baudouin und Vanchelle?«
»Sie sind auch noch nicht da. Vielleicht hat Gaspard ihnen ausrichten lassen, dass es später wird.«
Es erschien Michel unwahrscheinlich, dass sein Freund alle benachrichtigt hatte, nur ihn nicht. Er dachte an Gaspards Andeutungen gestern Abend. Hatte er dieses »Versehen« etwa arrangiert, damit Michel ungestört mit seiner Schwester plaudern konnte? Allerhand.
»Ich war gerade bei meinen Tieren«, erklärte Isabelle, als sie den Eingangsraum durchquerten. »Wollt Ihr mir Gesellschaft leisten, bis die anderen kommen?«
»Wir bleiben also bei Ihr und Euch?«, fragte er lächelnd.
»Ihr habt doch meine Mutter gehört.« Ihre Katzenaugen glitzerten spöttisch. »Ihr seid jetzt ein angesehener Kaufmann. Wo kämen wir hin, wenn wir uns wie alte Freunde verhielten?«
»Ganz wie Ihr wünscht, werte Dame«, sagte er mit einer übertriebenen Verneigung. »Bitte, nach Euch.«
Sie traten auf den Hof. Auf der Mauer lag Isabelles Katze und beobachtete argwöhnisch zwei massige Hunde, die vor der Stalltür dösten. Eine weitere Katze, eine getigerte, huschte an Michel vorbei und schlüpfte in ein Kellerfenster. In einem Gehege neben der Remise standen ein recht altersschwacher Esel und ein nicht minder betagter Grauschimmel und fraßen in trauter Eintracht Hafer aus dem Trog. In einem Verschlag daneben tummelten sich mehrere Kaninchen.
Michel erinnerte sich, dass Isabelle schon als kleines Mädchen Tiere umsorgt hatte. Ihr Herz schlug besonders für kranke und alte Geschöpfe, die Pflege brauchten.
»Salome kennt Ihr ja schon«, sagte sie und stellte ihm auch ihre anderen Schützlinge vor. »Der getigerte Kater heißt Titus, die beiden Mastiffs Anubis und Goliath. Der Esel ist Rucio, der Grauschimmel hört auf den wohlklingenden Namen Curian.« Sie ging zum Kaninchenverschlag. »Das sind …«
»Auch die Kaninchen haben Namen?«
»Warum sollten sie keine haben?«, erwiderte Isabelle. »Darf ich vorstellen: Zeus, Hera, Apollon, Artemis, Demeter, Ares und Hermes. Aphrodite ist leider letzten Monat gestorben.«
Michel konnte verstehen, dass man Pferden, Katzen und Hunden Namen gab – aber Kaninchen? Davon hatte er noch nie gehört. Noch dazu Namen antiker Gottheiten. Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Ja, lach mich nur aus«, meinte sie ein wenig verärgert und vergaß dabei jegliche Förmlichkeit. »Wahrscheinlich hältst du mich für verrückt, genau wie mein Bruder, weil ich meine Zeit mit Tieren vergeude. Dabei sind sie genauso Kreaturen Gottes wie wir. Sie verdienen unseren Respekt.«
»Ich halte dich nicht für verrückt. Es … gefällt mir.«
»Nimmst du mich auf den Arm?«, fragte sie argwöhnisch.
»He, ich rede mit meinem Pferd, wenn ich allein bin. Bei meiner Reise über die Alpen habe ich dem armen Tier meine halbe Lebensgeschichte erzählt. Wer von uns beiden ist nun verrückt?«
Sie musste lachen. »Dein Pferd kann einem wirklich leidtun. Könntest du mal Curians Huf halten? Ich glaube, er hat sich verletzt.«
Sie betraten das Gehege, und Michel half ihr, den Vorderhuf des Grauschimmels zu untersuchen. Glücklicherweise war es nichts Ernstes; Curian hatte sich nur einen Stein eingetreten, der sich leicht entfernen ließ. Es rührte Michel eigentümlich zu sehen, wie Isabelle sich um das Pferd kümmerte. Die meisten Menschen hatten eine unsentimentale Einstellung zu ihrem Reittier. Sie pflegten es zwar, jedoch nicht aus Liebe, sondern aus pragmatischen Erwägungen, denn Pferde waren teuer. Isabelle dagegen behandelte den Grauschimmel mit echter Zuneigung. Sie sprach ihm gut zu, streichelte ihm den Hals und lobte ihn für seine Geduld, als der Stein entfernt war. Jeder
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