Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
mir etwas«, bat er Jean.
»Was denn?«
»Egal. Hauptsache, es bringt mich auf andere Gedanken.«
»Bedrückt dich etwas?«
»Ach, nur die üblichen Sorgen«, antwortete Michel ausweichend. »Nicht weiter wichtig.«
Jean überlegte einen Augenblick und bediente dabei das Ruder mit schlafwandlerischer Sicherheit. »Ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass ich letzten Monat zum Sprecher der unmündigen Männer gewählt wurde.«
»Das ist großartig. Meinen Glückwunsch.« Der Sprecher der Unmündigen war ein geachtetes, wenngleich unbezahltes Amt, das es seit Menschengedenken in Varennes gab. Er vertrat die Belange der Heranwachsenden und unverheirateten Männer, die jünger als einundzwanzig Jahre waren, schlichtete Streitigkeiten zwischen Lehrlingen und Meistern und vermittelte bei Konflikten mit der Obrigkeit. Sogar Bischof und Schultheiß holten gelegentlich seinen Rat ein, obwohl er weder der Kirche noch der Gilde oder einer der Handwerksbruderschaften unterstand. Michel zweifelte nicht daran, dass sein Bruder genau der Richtige für diese Aufgabe war. Obschon alles andere als ein Dummkopf, war Jean mehr ein Tatmensch als ein Denker, und diplomatisches Geschick besaß er auch nicht gerade im Übermaß. Dafür verfügte er über Schläue, Durchsetzungsvermögen und Muskelkraft – Eigenschaften, die in der rauen Welt der jungen Männer mehr zählten als Einfühlungsvermögen und Bücherwissen. »Wie kam es zu der Wahl? Wart ihr mit eurem alten Sprecher nicht mehr zufrieden?«
»Nein, Amalric hat seine Sache gut gemacht. Aber letzten Winter ist er mündig geworden, da wurde es Zeit, das er aufhört.« Das ungeschriebene, aber eherne Gesetz der jungen Männer verlangte, dass ihr Sprecher einer von ihnen sein musste, unmündig und unverheiratet.
Nicht ohne Stolz erzählte Jean von den Umständen seiner Wahl, wie er seine Mitbewerber ausgestochen und eine ansehnliche Mehrheit für sich gewonnen hatte. Als er dabei einmal kurz das Ruder losließ, bemerkte Michel, dass er etwas Glänzendes in der Hand hielt.
»Was hast du da?«
»Ein Amulett. Ein Schlangenherz, in Silber eingefasst. Peirona, die Hebamme, hat es mir gemacht.«
»Wofür ist es?«
»Es schützt uns vor den Wassermännern, die am Grund der Mosel hausen.« Leise fügte Jean hinzu: »Ich wünschte, Vater hätte auch eines bei sich getragen.«
»Du glaubst, Wassermänner haben ihn umgebracht?«, fragte Michel.
Sein Bruder nickte grimmig. »Er war der erfahrenste und umsichtigste Flussschiffer, den ich kenne. Dass ausgerechnet ihm so ein Unglück zustößt, kann doch nicht bloßes Pech gewesen sein. Wassermänner haben ihn auf dem Gewissen, anders kann ich mir das nicht erklären.«
Mit leichtem Unbehagen betrachtete Michel den moosgrünen Fluss. Hätte man ihn gefragt, ob er an Wassermänner glaube, hätte er keine eindeutige Antwort geben können – er wusste es einfach nicht. Nahezu alle Menschen, die er kannte, waren davon überzeugt, dass in den Wäldern Kobolde, Faune und andere Kreaturen hausten, von denen man sich besser fernhielt. Auf seinen Reisen hatte er zwar noch nie ein derartiges Wesen gesehen, aber was hieß das schon? Schließlich war allgemein bekannt, dass es den bösen Blick, Flüche und Dämonen gab, die arme Seelen heimsuchten und ihnen Krankheit und Schmerz brachten – also warum nicht auch Feen und Waldgeister?
Jean hingegen waren solche Überlegungen fremd. Seit ihrer Kindheit in Fleury erfüllte ihn die tiefe Gewissheit, dass überall magische Kräfte ihr Werk verrichteten. Aus diesem Grund trug er immerzu Schutzamulette bei sich oder praktizierte an bestimmten Tagen kleine Rituale, um Hauswichtel und dergleichen zu besänftigen. Manchmal zog Michel ihn für seinen Geisterglauben auf, doch im Grunde respektierte er Jeans Ansichten.
Er zuckte zusammen, als ein Schatten unter der Wasseroberfläche vorbeihuschte.
»Da!«, rief Jean. »Hast du gesehen?«
»Das war nur ein Fisch.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
Die beiden Söldner wechselten einen Blick voller Unbehagen.
»In Christi Namen, bitte hört auf damit«, sagte der ältere. »Wenn man über Wassermänner spricht, lockt man sie an.«
»Du hast recht«, stimmte Jean ihm zu. »Lass uns über etwas anderes reden, Michel.«
Je weiter sie nach Norden kamen, desto breiter und tiefer wurde die Mosel. Die Landschaft hingegen änderte sich kaum. Genau wie in der Umgebung von Varennes stiegen zu beiden Seiten des Flusses Hügel an, bedeckt von Weiden und
Weitere Kostenlose Bücher