Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
auch nicht. Nach allem, was Michel heute Abend gehört hatte, erschien es ihm klug, sich ein eigenes Bild von der Stimmung in der Gilde zu machen. Möglicherweise hatte Gaspard in seinem Zorn maßlos übertrieben, was den Einfluss der Ministerialen betraf – immerhin waren Géroux und seine Leute nur zu fünft. Eine solch kleine Gruppe konnte schwerlich die ganze Schwurgemeinschaft bevormunden, und wenn sie zehnmal den Gildemeister stellte. »Das werden wir sehen.«
Gaspard seufzte. »Du warst drei Jahre nicht da. Varennes hat sich verändert. Mit guten Worten erreicht man nichts mehr, wieso glaubst du mir das nicht? Wir hätten diesen Plan nicht gefasst, wenn wir nicht davon überzeugt wären, dass es die einzige Möglichkeit ist, etwas zu bewirken.«
»Bei einem Plan, der darin besteht, den Bischof zu entführen, mache ich nicht mit«, entgegnete Michel schneidend. »Und jetzt will ich nichts mehr davon hören.«
»Ist das dein letztes Wort?«
»Mein letztes.«
»Bitte. Ganz wie du willst«, knurrte Gaspard. Er stand auf und fuhr sich durch das dichte schwarze Haar, während er unruhig im Saal umherging. »Rede mit den Schwurbrüdern. Appelliere an ihre Vernunft. Du wirst schon sehen, was du davon hast.«
M ETZ
A m nächsten Morgen brachten Michel und Jean die Waren mit dem Ochsenwagen zum Anlegesteg am Fischmarkt, luden sie auf das Salzschiff und machten sich auf den Weg nach Metz. Bald schon zeigte sich, dass Jean in den letzten Jahren zu einem geübten Flussschiffer geworden war. Er stand am Heck, das Ruder in den Händen, und steuerte den kleinen Kahn sicher durch Untiefen und Stromschnellen. Offensichtlich kannte er die Mosel und ihre Tücken inzwischen wie seine Westentasche.
Das Salzschiff war eine Zille, ein Boot mit flachem Boden und angewinkelten Bug- und Heckteilen, rund zwanzig Ellen lang und vier breit. Bei dem Unfall ihres Vaters war es schwer beschädigt worden; wo Jean den Rumpf ausgebessert hatte, war das Holz hell und neu. In der Mitte befand sich eine niedrige Holzhütte, in der sie die Fässer, Wollballen und Kisten verstaut hatten, sicher vertäut, damit die Ware nicht ins Wasser fiel, wenn das Boot ins Schlingern geriet. Ferner hatten sie den Wagen samt Ochsen mitgenommen. Bei der Rückfahrt flussaufwärts würden sie treideln müssen, und dafür brauchten sie ein kräftiges Zugtier.
Im Schatten der Hütte saß ihr bewaffneter Geleitschutz: zwei Männer in Kettenhemden, die Schilde, Helme und Streitäxte trugen – Söldner, die Michel auf eigene Kosten in der Unterstadt angeworben hatte. Die Fahrt auf der Mosel galt zwar gemeinhin als sicher, doch man konnte nie wissen. In der Wildnis lief man immer Gefahr, dass man Räubern und ausgehungerten Vogelfreien begegnete, die zu allem entschlossen waren.
Michel hockte müde auf einer der Pritschen, betrachtete die vorbeiziehenden Hügel und dachte an den gestrigen Abend. Wegen seiner Auseinandersetzung mit Gaspard hatte er schlecht geschlafen, und sie machte ihm nach wie vor zu schaffen. Gewiss, auch früher hatten sie sich gelegentlich gestritten, aber noch nie so heftig. Obwohl ihre Freundschaft tief und gefestigt war, hielt Michel es für möglich, dass sie Schaden genommen hatte. Sie waren keine unbeschwerten Heranwachsenden mehr, die keine Sorgen kannten. Sie trugen jetzt die Verantwortung für ihre Familien, ihre Geschäfte und das Gemeinwesen, in dem sie lebten, und nun zeigte sich, dass sie in grundsätzlichen Fragen gänzlich verschieden waren. Vielleicht zu verschieden, um länger Freunde zu sein.
Den Bischof entführen, um ihn zu zwingen, seine Macht mit uns zu teilen … Michel konnte immer noch nicht fassen, dass Gaspard dergleichen ernsthaft in Erwägung zog. Einem mächtigen Mann der Kirche so etwas anzutun grenzte nicht nur an Blasphemie, es barg überdies die Gefahr, dass Varennes in Aufruhr, Chaos und Blutvergießen versank. Und Michel verabscheute Gewalt in jeglicher Form. Nach seiner Erfahrung brachten Kampf und Krieg nur unermessliches Leid über alle Beteiligten und verschlimmerten jeden Konflikt, statt ihn zu lösen. Niemals würde er bei einem solch aberwitzigen Vorhaben mitmachen.
Er wünschte, er könnte mit Jean über all das reden. Doch er hatte einen heiligen Eid geleistet, mit niemandem über das gestrige Treffen zu sprechen. Bräche er seinen Schwur, gefährdete er das Heil seiner Seele. Bekümmert starrte er zum wolkenverhangenen Himmel hinauf, bis er sich schließlich zu seinem Bruder setzte.
»Erzähl
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