Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
wie eine Pestilenz im Reich aus, besonders in den Städten. Gedanken von Freiheit und Eigenständigkeit. Der Reichtum hat Kaufleute und Bürger selbstbewusst gemacht, selbstbewusst und arrogant. Überall rebellieren sie gegen unsere heilige Mutter Kirche und greifen nach der Macht, in Mainz, Speyer, Worms und anderswo – oftmals gar geduldet vom Kaiser, der jede Gelegenheit nutzt, unseren Einfluss zu schmälern. Ich frage mich, was Ihr tun würdet, wenn diese Krankheit dereinst Varennes heimsuchte.« Der Archidiakon blickte ihn an, und in seinen Augen lag ein kalter, stählerner Glanz, der so gar nicht zu dem kauzigen Gelehrten der letzten Tage passte. Ulman ahnte, dass er endlich den wahren Johann zu sehen bekam, den berechnenden Politiker und Machtmenschen, vor dem das halbe Reich zitterte.
»Seid Ihr stark genug, Eure Stadt davor zu schützen?«, fragte der Reichskanzler leise. »Könnt Ihr bewahren, was Eure Vorgänger über Jahrhunderte geschaffen und aufgebaut haben?«
»In Varennes wird es niemals zu einem Bürgeraufstand wie in Mainz kommen«, erwiderte Ulman gelassen. »Ich habe dafür gesorgt, dass mir die Gilde gehorcht und Bürger und Kaufleute die Macht der Kirche achten und fürchten, wie es sich für gute Christen geziemt. Es gibt keinen Grund zur Sorge, Exzellenz.«
»Gewiss. Ihr seid ein Bollwerk des Glaubens, an dem niemand so leicht vorbeikommt. Deshalb hat Euch der Erzbischof einst für diese Aufgabe ausgewählt. Doch es gibt etwas, das Euch zum Verhängnis werden könnte. Eure größte Schwäche.«
»Schwäche? Was meint Ihr?«
»Eure Eitelkeit.«
Ulman war es nicht gewöhnt, dass man derart offen mit ihm sprach. Es gelang ihm nicht, sein Missfallen über diese Kritik an seinem Charakter zu verbergen. »Bei allem Respekt, Johann, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich etwas getan habe, das diesen Vorwurf rechtfertigte …«
Der Reichskanzler unterbrach ihn, indem er die Hand hob. Es war nur eine kleine Geste, doch in ihr lag so viel Autorität, dass Ulman augenblicklich verstummte. »Ich bitte Euch, mein Freund. Die kostbaren Möbel und teuren Wandteppiche in Eurem Palast, das Gewand, das Ihr angeschafft habt, um mir zu gefallen – Ihr könnt nicht bestreiten, dass Ihr äußerst empfänglich für dieses Laster seid.«
Ulman zog es vor zu schweigen.
»Die vanitas ist die tückischste aller Sünden«, erklärte Johann. »Unbemerkt schleicht sie sich in unsere Herzen, tarnt sich gar als Großmut und Barmherzigkeit und verrichtet ihr zerstörerisches Werk. Ich gebe Euch den Rat, Eure Eitelkeit zu bezwingen. Sonst könnte es allzu leicht geschehen, dass die Feinde der Kirche sie sich zunutze machen und gegen Euch verwenden.«
Ulman war zutiefst gekränkt. »Ich danke Euch für Eure Offenheit«, sagte er steif. »Ich werde mir Eure Worte zu Herzen nehmen.« Nichts dergleichen würde er tun. Was Johann da von sich gab, war eine unverschämte Beleidigung, die keine Beachtung verdiente. Und dafür hatte er diesen Kerl in seinem Haus aufgenommen und bewirtet …
»Tut das. Tut das. Ein Mann des Glaubens muss stets danach trachten, seine Schwächen zu überwinden«, erwiderte Johann, der sich binnen eines Herzschlags wieder in den freundlichen Kauz verwandelt hatte. »Sieh an, schon sind wir zu Hause!«, sagte er fröhlich, als die Sänfte vor dem Palast hielt. »Ich hoffe, diese vortrefflichen Spielleute sind noch da. Wäre es nicht nett, wenn sie uns beim Essen wieder mit einem kleinen Lied unterhalten würden? Das wäre doch genau das Richtige für meinen letzten Abend in Varennes, nicht wahr?«
»Euer letzter Abend?«, fragte Ulman hoffnungsvoll, während er dem Archidiakon beim Aussteigen half.
»Ja, ich fürchte, ich muss Euch schon morgen verlassen, mein lieber Freund. Diese Reise hat viel zu lange gedauert, und in Trier warten zahlreiche Pflichten auf mich, die ich nicht aufschieben kann. Ich weiß, äußerst bedauerlich. Ich wünschte auch, ich könnte noch ein wenig bleiben. Aber das holen wir bei meinem nächsten Besuch nach – versprochen!«
»Es wäre mir eine Freude«, sagte Ulman und dachte: Gebe Gott, dass bis dahin noch viele Jahre vergehen.
Auch an diesem Abend verharrte Johann hartnäckig im großen Saal, als der letzte Gang längst abgeräumt war. Heiliger Jacques, wird dieser Mann niemals müde?, fragte sich Ulman, während der Archidiakon ununterbrochen plapperte und plapperte. Wie sehr er den morgigen Tag herbeisehnte! Er konnte es kaum erwarten, dass dieser
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