Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
organisieren ließen. Michel und Jean schlossen sich der ersten Gruppe an, die nach Frankreich aufbrach. Außer Charles Duval und Marc Travère gehörte ihr Fromony Baffour an, ein überängstlicher Mann, der sich immerzu Sorgen machte und hinter jeder Ecke dräuendes Unglück wähnte. Nachdem sie sich feierlich gegenseitigen Beistand und brüderliche Waffenhilfe geschworen hatten, machten sie sich in aller Frühe auf den Weg.
Troyes war eine Stadt in der Champagne und lag sechs bis sieben Tagesreisen westlich von Varennes. Im Juli und August und noch einmal im November und Dezember fand dort eine der Champagne-Messen statt, die sechsmal im Jahr in verschiedenen Städten abgehalten wurden – neben Troyes in Provins, Bar-sur-Aube und Lagny-sur-Marne. Seit über hundert Jahren waren diese Märkte bedeutende Handelsplätze des westlichen Abendlandes, die nicht nur von französischen und lothringischen Kaufleuten besucht wurden, sondern auch von Deutschen, Flamen, Engländern, Dänen, Lombarden und Toskanern. Sogar Spanier und Byzantiner nahmen die weite Reise auf sich, um hier Geschäfte zu machen. Die Messen standen unter der Schirmherrschaft des Grafen von Blois, eines mächtigen Fürsten und Vasallen des französischen Königs. Der Graf garantierte allen Besuchern sichere An- und Abreise, schützte den Marktfrieden und sprach Recht, wenn es bei einem Geschäft zu Streit kam.
Die Sankt-Johannes-Messe von Troyes spielte sich hauptsächlich auf einer Wiese außerhalb der Stadtmauern ab, wo Hunderte Kaufleute Stände aufbauten und ihre Waren feilboten. Es gab nichts, was es nicht gab: Gewürze aus aller Welt, Vieh, Rassepferde, Schlachtrösser, Waffen und Rüstungen, exotische Früchte, Wein, erlesene Tuche, englische Wolle, Alaun und Sandelholz vom Schwarzen Meer, Leder aus Córdoba, Elfenbein aus Afrika, Sklaven aus Outremer. Der Durstige fand an jeder Ecke billiges Bier und teuren Burgunder, der Hungrige überall Garküchen, die Gerstenbrei und gekochtes Fleisch verkauften. Wer müde von den Geschäften des Tages war, konnte sich in den Badehäusern der Stadt entspannen. Wen die Fleischeslust quälte, dem boten zahllose Huren ihre Dienste an.
Michel war mit großen Hoffnungen nach Troyes gereist. Würde in der Champagne endlich das Glück zu ihnen kommen – oder blieben sie vom Pech verfolgt? Er war nicht wenig nervös, als Jean und er den Marktzoll bezahlten und sich von einer Messewache zu ihrem Stand führen ließen. In den nächsten Wochen würde sich entscheiden, ob ihr Geschäft den Sommer überlebte. Scheiterten sie, blühten ihnen Ruin, Armut und Schmach.
»Ihr seid das erste Mal ohne Euren Vater in Troyes, deshalb ist eine Warnung angebracht«, sagte Fromony Baffour. »Anfangs werdet Ihr es schwer haben, Käufer für Eure Waren zu finden. Die Makler der großen Gilden und die Truchsesse der Fürstenhäuser haben für Neulinge nur Argwohn übrig. Es wird dauern, bis Ihr ihr Vertrauen gewonnen habt. Man wird versuchen, Euch Geschäfte vor der Nase wegzuschnappen, Euch zu betrügen und über den Tisch zu ziehen. Also seid immer auf der Hut. Und beobachtet vor allem Angebot und Nachfrage. Es wäre nicht das erste Mal, dass die großen Handelsgesellschaften aus Metz und Nancy den Markt mit Salz überschwemmen. Betet, dass nichts dergleichen geschieht, sonst werden die Preise ins Bodenlose fallen.«
Michel betete in der Tat, als sie ihren Ochsen über die Wiese führten, vorbei an den Zelten und Verkaufsständen. Bitte lass uns diesmal Erfolg haben, flehte er den Himmel an. Wenn ich drei Fässer verkaufe, spende ich dem Spital der Abtei Longchamp Brot für eine Woche. Wenn ich alle sechs loswerde, sogar für zwei.
Doch schon am ersten Tag zeigte sich, dass es keinerlei Grund zur Sorge gab. Kaum hatten Jean und er ihre Fässer abgeladen, strömten die ersten Käufer herbei und rissen ihnen das Salz buchstäblich aus den Händen. Die Gerüchte die hohe Salznachfrage betreffend waren nicht übertrieben gewesen. Die Preise, die vor allem Burgunder und Engländer boten, übertrafen ihre kühnsten Erwartungen. Ein Londoner Kaufmann zahlte ihnen gar zehn Silberpennys pro Fuder, so verzweifelt brauchte er das Salz in der Heimat.
Niemand scherte sich darum, dass sie Neulinge waren; kein mächtiger Rivale machte ihnen Kunden abspenstig oder versuchte, ihnen zu schaden. Michel erlangte schon bald seine ihm eigene Zuversicht zurück und stürzte sich mit Feuereifer in die Arbeit. Er beschloss, nie wieder mit einer
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