Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
der Gilde zurückdrängen«, erwiderte Michel.
»Und wie? Etwa mit Gewalt?«, fragte Catherine. »Ich weiß, mich juckt es auch manchmal in den Fingern, Géroux aus dem Fenster zu werfen. Aber mal angenommen, wir jagen ihn und seine Freunde aus der Stadt – was würde dann geschehen? Es gäbe Mord und Totschlag.«
»Nein, Gewalt ist keine Lösung«, stimmte Michel der Kauffrau zu. »Wenn wir in den Kampf ziehen, dann nicht mit Schwertern und Lanzen, sondern mit den Tugenden, die einen guten Kaufmann ausmachen: mit Klugheit, Mut und Unternehmergeist.«
»Ich hab’s euch ja gesagt«, meinte Carbonel und präsentierte ein nahezu zahnloses Grinsen. »Der Junge hat es faustdick hinter den Ohren. Mit ihm werden wir es weit bringen.«
Marc Travère teilte die Euphorie des Alten nicht. »Trotzdem dürfte das äußerst schwierig werden«, gab er zu bedenken. »Dass Géroux seit über zehn Jahren unangefochten Gildemeister ist, hat schließlich seinen Grund. Er hat sich nach allen Seiten abgesichert; Leute von sich abhängig gemacht; andere eingeschüchtert. Wenn wir ihn herausfordern, steht uns ein erbitterter Machtkampf bevor.«
»Ich sage ja nicht, dass es einfach wird. Aber wenn wir nichts riskieren, wird sich nie etwas ändern.« Michel blickte in die Runde und erkannte, dass er seine Gäste noch lange nicht überzeugt hatte, abgesehen vielleicht von Carbonel. Es war dieselbe Verzagtheit, die er schon bei der Gildeversammlung gespürt hatte – die die Schwurbrüder seit Jahren davon abhielt, für ihr Recht einzustehen. Er musste seinen Zuhörern etwas bieten, was sie die Furcht vor Géroux vergessen ließ. Was ihnen neue Zuversicht einflößte.
In den letzten Wochen hatte er oft darüber nachgedacht, welches Potenzial Varennes besaß. Obwohl seine Heimatstadt klein war, verfügte sie über alle Voraussetzungen für eine goldene Zukunft: einen wichtigen Handelsweg, eine traditionsreiche Gilde, tatkräftige Kaufleute und Bürger. Und doch lagen ihre Möglichkeiten ungenutzt brach – ein Zustand, mit dem er sich nicht länger abfinden wollte. Plötzlich wurde ihm klar, dass er viel großartiger dachte als Gaspard und die anwesenden Kaufleute: Es genügte ihm nicht, Bischof Ulman ein paar Rechte abzutrotzen. Er wollte mehr. Viel mehr.
»Überlegt doch, was aus unserer Stadt werden könnte. Stellt euch vor, welche Zukunft wir haben könnten, wenn wir nur den Mut hätten, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen«, begann er. »Lasst mich euch von Mailand erzählen. Ich habe dort Dinge gesehen, die ihr euch nicht vorstellen könnt. Schwindelerregende Größe, unvorstellbaren Reichtum – und noch viel mehr. Mailand hat beharrlich Kaiser und Kirche getrotzt, bis es endlich seine Eigenständigkeit errungen hat. Dort herrscht Freiheit – wahre Freiheit. Es gibt keine erdrückenden Zölle und Marktgebühren. Keine Gesetze, die nur den Herrschenden dienen. Keine Adligen und Bischöfe, die den Menschen das Leben schwermachen. Und warum? Weil alle Macht in den Händen der Bürger liegt. Sie allein bestimmen über die Höhe der Steuern, über die Besetzung wichtiger Ämter, sogar über Krieg und Frieden. So kommt der Reichtum der Stadt allen zugute. Sämtliche Straßen sind gepflastert. Niemand muss Hunger leiden. Die Kinder, und nicht nur die der Patrizier, können öffentliche Schulen besuchen und lesen und schreiben lernen. Wer krank ist, bekommt ein Bett in einem städtischen Spital und wird von einem gelehrten Medicus behandelt, für nur wenige Pfennige am Tag. Ich glaube, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass es keinen Ort auf Erden gibt, der dem Paradies näherkommt.«
Er hatte sich von seinem Platz erhoben und spürte, dass sich seine Begeisterung auf seine Zuhörer übertrug, während er sprach. Gewiss, er war ein guter Redner, doch damit allein ließ sich nicht erklären, warum die vier Kaufleute plötzlich derart an seinen Lippen hingen. Just in diesem Moment geschah etwas Seltsames, beinahe Magisches im Saal: Ein Traum wurde geboren. Vor wenigen Minuten noch hatte Michel selbst nichts von seiner Existenz geahnt – doch jetzt war er auf einmal da. Gleißend und verheißungsvoll wie eine Vision.
»All das kann auch Varennes erreichen«, fuhr er fort. »Aber nur, wenn wir mutig sind. Wenn wir keine Mühen scheuen und niemals vor unseren Feinden weichen, kann unsere Stadt eines Tages wie Mailand werden – zu einem Ort der Freiheit und Vernunft, des Wohlstands und der Sicherheit. Wir müssen es nur
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