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Das Salz der Mörder

Das Salz der Mörder

Titel: Das Salz der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Otto Stock
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den kurzen Wintertagen. Nur
manchmal, wenn es ein wenig milder wurde, schlenderten wir für eine halbe
Stunde durch das Dorf. Stets achtete ich darauf, dass unser Weg am Weißen Haus
vorbei führte. Immer, wenn ich es sah, sah ich die Männer, die bei der
Hinrichtung des schwulen Lutze neben mir auf dem Podium saßen. Was mit ihnen
geschehen war, ob sie noch lebten oder man sie in den Brunnen geworfen hatte,
konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Eigentlich dachte ich ziemlich häufig an
den Lutze, an seine Hinrichtung und an seine flehenden Augen. Ja, dieses
erbärmliche Flehen in seinen Augen werde ich wohl nie vergessen. Schließlich
ereignete sich diese fürchterliche Tragödie an meinem neununddreißigsten
Geburtstag. Auch wenn ich all das Schreckliche vergessen wollte, bis an mein
Lebensende wird mich diese Hinrichtung verfolgen, weil ich unweigerlich jedes
Jahr am 9. Oktober daran erinnert werde, genau wie an John Lennon, der am
selben Tag Geburtstag hatte.
    Da
ich nicht wusste, wie man schwul wird, bat ich Maria in der Hansen-Bibliothek
nachzusehen. Und tatsächlich, die hatten sogar etwas über Homosexualität in
ihren Regalen. Also, warum sollte ich mich nicht über gleichgeschlechtliche
Liebe informieren? Ich bin, Gott sei Dank, nicht derartig veranlagt, weswegen
müsste ich dann Berührungsängste vor diesem Thema haben? Und nebenbei kann es
kaum schaden, wenn man sich ein bisschen Allgemeinwissen aneignet, sagte ich
mir. Am nächsten Tag lag das Buch auf dem Wohnzimmertisch. Maria war nirgendwo
zu sehen. War ihr etwa diese absonderliche Materie peinlich? Ich schlug die
erste Seite auf und las das erste Wort: „Ödipuskomplex“. Aha, und weiter: „In
der männlichen Homosexualität sieht das Kind die Mutter als Sexualobjekt an.
Der Junge ist ungewöhnlich lange und intensiv an seine Mutter fixiert. Nach der
Pubertät kommt die Zeit, die Mutter gegen ein anderes Sexualobjekt
auszutauschen. Plötzlich tritt eine Wende ein: der junge Mann verlässt nicht
seine Mutter, sondern identifiziert sich mit ihr. Er wandelt sich in sie um und
sucht jetzt nach Objekten, die ihm sein Ich ersetzen können. Er will diese
Objekte, sprich Männer, so lieben und so pflegen wie es seine Mutter bei ihm
getan hat. Der Verlust eines geliebten Objekts führt in vielen Fällen zu
grausamer Selbstherabsetzung des Ichs in Verbindung mit schonungsloser
Selbstkritik und bitteren Selbstvorwürfen. Doch meistens gelten diese Vorwürfe
dem Objekt und ist die Rache des Ichs an ihm. Das Ich zerfällt in zwei Teile,
von denen das eine gegen das andere wütet.“
    Es
reichte! Ich warf die „Ich-Analyse“ in die entfernteste Ecke des Zimmers. Dies
schien nicht das zu sein, was mir unter Schwulsein vorschwebte. Mit meinem Ich
möchte ich solche Probleme nicht durchleben müssen. Obwohl ich mir eingestehen
musste, dass da gewisse Ähnlichkeiten bestanden, zumal ich ja selbst ohne Vater
aufwuchs und obendrein von zwei Müttern erzogen worden war: Mutter und
Großmutter, auf die ich mich ebenso intensiv fixierte. Bin ich deshalb schwul?
Na ja, lassen wir das. Das war zu viel für mein heterosexuelles Ego. Immerhin
hatte ich einmal Sigmund Freud gelesen.
    Die
Hansen ließ uns weitgehendst in Ruhe, von den täglichen Ermahnungen zum
ständigen Geschlechtsverkehr abgesehen. Darüber konnte ich bloß herzhaft
lachen: Ich war dem Tode geweiht, weshalb sollte ich also während meiner
letzten Tage nicht mehr richtig ficken wollen, wenn schon die Möglichkeit dafür
bestand? Man hat ja sonst keine Freuden mehr. Ohnedies hatten sich Maria und
ich mittlerweile aneinander gewöhnt.
    Jeden
Dienstag und Freitag musste sie im Labor bei der Johannsen erscheinen, um sich
einem Schwangerschaftstest zu unterziehen. Zu verkehren hatten wir nach einem
exakt erstellten Kalender, der strikt einzuhalten war. Man schrieb uns sogar
die genaue Tages- bzw. Nachtzeit zur Ausführung des Sexualkontaktes vor.
Außerdem bekamen wir eine spezielle Apfeldiät zusammen gemixt. Diese sagenhafte
Kur würde uns potenter, zeugungsfähiger machen. Jedes Kind weiß heutzutage:
Äpfel sind gesund. Frau Dr. phil. Hansen erachtete es freilich für angemessen,
uns ein Referat über den ordinären deutschen Apfel zu halten. Wenn man den Apfel
mit der Schale isst, sei er noch gesünder, dozierte sie. Er ist dann ein wahrer
Jungbrunnen, der die Vitamine A, B6 und C sowie die Mineralstoffe Kalzium und
Kalium in sich vereint. Und am besten wäre es, wenn wir ihn mit dem

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