Das Salz im See 1: Ein teuflischer Plan (German Edition)
Gebirge ist ständig in Bewegung, das ist in dieser Region etwas Alltägliches. Nun hat es sich entspannt, die größte Gefahr ist vorüber. Was meinen Sie, wie oft ich in solchen Minen war, und immer bin ich heil herausgekommen!“ Er übersah geflissentlich, daß Frankens Gesichtsfarbe einen ungesunden Grauton annahm, seine Stirn schweißnaß glänzte. Weißenfels ahnte nicht, daß er noch nie in einer solchen Mine gewesen war. Vor allem aber konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, daß es seine letzte Minenbegehung sein würde.
29. Juli, 15:30 Uhr Ortszeit; Sulaiman Coal Mine, Schulungsraum
Nach dem opulenten Mahl und dem obligatorischen Tee wurde, ohne jegliche Hektik, in den Schulungsraum gebeten. Sie passierten auf dem Weg dorthin die Waschkaue, deren Dimension auf die Anzahl der beschäftigten Bergleute schließen ließ. Sander schätzte, daß dies allenfalls zwanzig bis dreißig sein konnten. Weißenfels bestätigte dies.
Der Schulungsraum hatte die Größe eines Klassenzimmers. Er teilte mit diesem auch die Atmosphäre, allerdings prangte dort, wo sich üblicherweise die Tafel befindet, eine wandfüllende Darstellung des Minenvertikalschnitts, unmittelbar darunter eine entsprechende Draufsicht. Flözverlauf und jeweiliger Status des Kohleabbaus waren farblich gekennzeichnet. Auffällig war die Neigung der Strebe, die den Flözen folgend – im 45°-Winkel steil ansteigend – jeweils von unten in den Berg getrieben wurden. Laut Graphik erfolgte zur Zeit der Abbau auf zwei Sohlen, die miteinander durch zwei Schrägaufzüge verbunden waren. Höhenangaben fehlten, so daß der Darstellung die Mächtigkeit des Gebirges zwischen den Abbauebenen nicht zu entnehmen war.
Während der vereinfacht dargestellte Vertikalschnitt der Mine ein halbwegs geordnetes Bild abgab, zeigte die Draufsicht ein chaotisches, an zahlreichen Stellen miteinander verknüpftes Stollengewirr unterschiedlicher Richtungen und Längen. Es war jedoch nicht die Darstellung der aktuellen Situation, die Sanders vorrangige Aufmerksamkeit forderte, sondern vielmehr eine an der angrenzenden Längswand angebrachte antiquarische Tuschzeichnung, die hinter Glas den Zustand der Mine Ende des 19. Jahrhunderts wiedergab. Sander faszinierten seit jeher technische Zeichnungen aus der Frühgeschichte der Industrialisierung. Dies galt gleichermaßen auch für alte Landkarten. Er hatte zu Hause eine Kartensammlung des Rheinlandes aus postnapoleonischer Zeit. Es war für ihn immer wieder eine Herausforderung, in der heutigen Landschaft Spuren längst vergangener Infrastruktur zu identifizieren und eine noch viel größere Genugtuung, hierbei fündig geworden zu sein. In solchen Fällen war die Geduld seiner Frau immer wieder zu bewundern, wenn er plötzlich den Weg verließ und in unscheinbaren Bodenstrukturen, Ziegelbruch oder Schlackeresten Zeugen vergangener Epochen zu entdecken glaubte. Er erklärte dann akribisch, was er sah und wie er das Gesehene interpretierte, sie aber erblickte außer nichtssagenden Bodenwellen, rötlich gefärbten Steinfragmenten und seltsam geformtem, glasig-porig strukturiertem Gestein nichts, absolut gar nichts ...
Die Tuschzeichnung zeigte, analog zur aktuellen Darstellung, sowohl einen Vertikal- als auch eine Anzahl Horizontalschnitte des Gebirgszuges, der das Tal unmittelbar vor ihnen abriegelte. Das Plateau, auf dem sie sich befanden, war sichtlich kleiner dargestellt. Vermutlich war es durch Ankippen des Abraumes mit der Zeit angewachsen. Es spielte zu der Zeit der zeichnerischen Wiedergabe keinerlei Rolle. Die Stollen waren vielmehr vom gegenüberliegenden Hang, weit unterhalb besagten Plateaus von der dortigen Talsohle ausgehend, in den Berg getrieben worden. Sander gab seiner Phantasie freien Lauf. Als Folge der Gebirgsauffaltung traten dort in einer Störung die kohleführenden Schichten an die Oberfläche. Anhand der Zeichnung ließ sich die historische Entwicklung der Sulaiman-Mine eindrucksvoll nachvollziehen. An zahllosen Stellen grub man sich, den Flözen folgend, in den Berg. Nach wenigen, vielleicht zwanzig, maximal dreißig Metern setzte die schwierige Förderung der ausgebrochenen Kohle dem Treiben ein Ende. Erst in der Nachbarschaft, schließlich auch in unterschiedlicher Höhe wurden in gebührendem Abstand neue Stollen getrieben, bis die oberflächennahe Kohle abgebaut war. Der Hang dort mußte an seiner Basis aussehen wie ein Schweizer Käse.
Der Vertikalschnitt wies eine Auffälligkeit auf,
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