Das Salz im See 1: Ein teuflischer Plan (German Edition)
fehlte nur noch Schneewittchen.
Da war es wieder! Die Erde vibrierte, ganz leicht nur, vielleicht zehn, fünfzehn Sekunden, erneut hörte Sander das Prasseln herabstürzenden Gesteins, das im Schacht des Schrägaufzugs den Weg in die Tiefe suchte. Diesmal schwor er sich, Fassung zu wahren. Er blickte hinüber zu den Pakistanern, die kurz ihr Gespräch unterbrachen, um es dann unbeeindruckt fortzusetzen. Sander war beruhigt und stolz zugleich, nunmehr erfahren genug zu sein, mit mentaler Stärke den Urängsten zu trotzen. Nichts könnte ihn mehr in Panik versetzen! Die erlittene Schmach – vorhin, vor seinem Höllenritt – war ein für allemal vergessen.
Seine Gedanken fanden ein jähes Ende. Sander wußte nicht, was zuerst war – das mit keinem Sprachschatz dieser Welt zu beschreibende Kreischen des berstenden Berges, das sich in rasender Geschwindigkeit, scheinbar von links aus dem Stollen kommend, um sie ausbreitete, bis es allgegenwärtig ihre Sinne mordete, oder war es diese irrwitzig knapp über dem Stollengrund auf sie zurasende Staubwoge, im Lichtkegel der Helmleuchte nur den Bruchteil einer Sekunde wahrnehmbar, die einer Brandungswelle gleich unter ihnen hindurchschoß, um sie im gleichen Augenblick in die Luft zu schleudern. Sander verspürte den harten Schlag des Bodens, der ihn, einem Spielzeug gleich, in die Höhe katapultierte. Bevor er die Vorgänge um sich herum begriff, landete er mit schmerzhaftem Aufschlag auf dem Stollengrund, um gleich wieder in die Luft geschleudert zu werden. Sein Körper prallte gegen die Stollenwand, fiel von dort zurück, unfähig, auch nur die geringste Abwehrbewegung zu tun, den Aufprall zu lindern.
Der Berg schrie infernalisch. Sander sah im umherirrenden Lichtkegel, Momentaufnahmen gleich, wie Urgewalt das Feldbahngleis des Aufzugs aus den Bodenankern riß, dieses sich um seine Längsachse drehte, als würde es zu Garn versponnen. Mächtige Gesteinsbrocken jagten den Aufzugschacht hinab, schlugen in rasender Fahrt gegen das sich windende Gleis und formten es zu einem skurrilen Geflecht aus Schienen, Schwellen und Stahlankern. Das alles schien lautlos, stummfilmgleich, denn der Schrei des Berges übertönte alles, war allgegenwärtig, von elementarer Übermacht, schiere Urgewalt, die Seele zerfetzend stahl er die Sinne, die letzte Würde, um in einem explosionsgleichen Finale urplötzlich zu verstummen. Der immer noch wild tanzende Boden zermürbte Sanders Körper und Reflexe. Wieder schlug er hart auf. Wie oft schon? Sander wußte es nicht, es war unwichtig geworden. Längst hatte er jegliches Gefühl für Raum, Zeit, Schmerzen und die nicht enden wollende Apokalypse verloren. Er sah, ohne zu sehen, er hörte, ohne zu hören, er spürte, ohne zu spüren. Er war nicht mehr Persönlichkeit, noch nicht einmal mehr Körper, er war Teil des Chaos, bedeutungsloses Element unter Elementen, ohne Eigenschaften, ohne Bewußtsein, ohne Herkunft, ohne Ziel.
Unfähig, einen Gedanken zu fassen, starrte er in den Lichtkegel, in einer chaotisch wabernden Staubwalze mit rasender Geschwindigkeit kürzer werdend, bis diese ihm den Atem raubte. Instinktiv preßte er den Ärmel seiner Montur vor Mund und Nase. Er spürte noch den harten Aufprall auf seinem Helm, Geröll ergoß sich über seinen Körper, umschlang ihn mit stählernem Griff, preßte ihn zu Boden. Es wurde dunkel vor seinen Augen. War es das Ende? Die plötzliche Finsternis und die Unfähigkeit, einen Gedanken zu fassen, hielten ihn gefangen, hilflos am Boden auf das Unabwendbare wartend, dieses fast herbeisehnend.
Sander verharrte in körperlicher wie geistiger Starre, der Schock hatte seine Lebensfunktionen auf das absolute Minimum reduziert. Unendlich langsam kehrten die Sinne zurück. Er roch das Methan, schmeckte den bitteren Staub. Vereinzelt fielen Steinfragmente zu Boden, dann herrschte Stille, Panik auslösende, alles Leben erstickende Stille, unwirklicher Kontrast zu dem gerade durchlebten Inferno. Nichts regte sich. Warum redeten die Pakistaner nicht? Jetzt erst bemerkte er, daß er am Boden lag, flach atmend, die Augen geschlossen. Er öffnete sie, doch es blieb dunkel. Wohin er den Blick auch richtete – nichts als Schwärze, konturlose, erbarmungslose Finsternis. Panik kroch in ihm hoch. Hatte er das Augenlicht verloren?
Mühsam richtete er unter dem von ihm gleitenden Geröll seinen Oberkörper auf; er spürte, wie zunehmender Schmerz ihn durchflutete. Beine, Arme, Brustkorb, die linke Gesichtshälfte,
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