Das Salz im See 1: Ein teuflischer Plan (German Edition)
zu leben. Du wirst es nicht glauben, ich suchte Boden, Wände und Decke nach Insekten ab, nach Schaben, Spinnen, Asseln, Getier, dem ich normalerweise den Garaus bereitet hätte. Ich war lange Zeit depressiv, als ich nichts dergleichen fand. Hatte TM mich verlassen, blieb mir nur das Warten, das Warten auf nichts. Irgendwann würden sie wieder das Licht ausmachen, und ich würde versuchen, zu schlafen. So ging es, Zyklus um Zyklus. Es ist verrückt, aber ich sehnte mich nach TMs Besuchen! Irgendwann brachte er ein Schachspiel mit. Von da an eröffneten wir unsere Treffen stets mit einer Partie, gefolgt von mehr oder weniger unverbindlichem Geplauder. Erst dann begann das gewohnte ‚Kooperationsritual‘. Wenn ich die Frage nach meiner Freilassung stellte, wurde er eiskalt, ein anderes Wesen. ‚Vergessen Sie‘s!‘ war die stets gleiche Antwort. Seine Stimme, gewöhnlich eher sanft, ätzte wie Säure, und er verließ, als wäre er zutiefst beleidigt, umgehend die Kammer. Unter dem Druck der Isolation stellte ich die Frage immer seltener.
Zwischen uns entwickelte sich mit der Zeit eine Art ‚intellektueller Partnerschaft‘. Irgendwann hörte ich auf, Fluchtszenarien zu entwickeln. Ich beschloß, während meiner Gefangenschaft so viele Informationen zu sammeln, wie nur möglich, um diese zu gegebener Zeit nutzen zu können. Allein die Autosuggestion, mich auf dem Kriegspfad gegen das Böse zu befinden, den Kampf aufzunehmen, um die Welt zu retten, versetzte mich in die Lage, die Folter der Isolation, der Dunkelhaft, der andauernden Perspektivlosigkeit geistig unbeschadet zu überstehen. Ich schnitzte mir meine virtuelle Welt, nur TM durfte sie betreten, ohne jedoch meine wahren Gedanken jemals erahnen zu können. Er würde mein Instrument sein!
Diese Strategie fand ein unvorhergesehenes Ende, als TM irgendwann wortlos ein Foto auf den Tisch legte. Mir wurde schwindelig, als ich darauf Natascha und die Kinder erblickte, im Hintergrund unverkennbar die Hanse-Architektur Rigas. Sie standen an einer Haltestelle. Natascha sah müde aus, doch die Kinder strahlten. Beide hielten einen Stoffdinosaurier in den Händen. Was mir den Verstand raubte, war die Person hinter ihnen. Es war der Oberst! Er machte das Victory-Zeichen. Sein Grinsen war von abgrundtiefer Boshaftigkeit. Sie hatten meine Familie gefunden! Im Moment dieser Erkenntnis spürte ich förmlich, wie der Boden unter mir in die Tiefe glitt. In mir war nichts mehr – vollkommene Leere! Ich wußte, ich hatte endgültig verloren.“
Sander tastete ungefragt nach der Wasserflasche zu seiner Linken. Der Russe griff dankbar danach, als er ihre Rundung an seinem Oberarm spürte. Er nahm einen Schluck, tippte anschließend mit der Flasche Sander an. Wie üblich sortierte er einen Augenblick die Gedanken, um dann mit seiner Geschichte fortzufahren: „TM beobachtete meine Reaktion. Er wußte genau, wie ich mich fühlte. Er wußte, er hatte mich in der Hand. Beinahe sanft stellte er mir die Frage nach meiner Kooperationswilligkeit. Ich nickte nur, war unfähig, auch nur ein Wort zu sagen. TM stand auf, knöpfte die Jacke zu – war er nicht in den Labors, trug er stets einen Anzug – und reichte mir die lederne Hand. Ich tat, als sähe ich sie nicht. Ich hörte seine Stimme verrauscht, undeutlich, als befände er sich hinter einem Wasserfall. Er sagte etwas von ‚Zeitzeuge einer bedeutenden, die Welt verändernden Entwicklung‘. Er beglückwünschte mich zu meinem Entschluß, von nun an daran mitzuwirken. Dann beugte er sich über den Tisch, nahm meine Hand. Ich hatte nicht die Kraft, sie ihm zu entziehen. Das glatte Leder seines Handschuhs löste Gänsehaut aus. Und dann diese scheußliche Maske! Seine Augen blieben stets im Schatten der Lederwulst, die die Stirnpartie nach unten abschloß. Selbst bei intensiver Lichtquelle, wie in den Labors, sah man nur ihren undeutlichen Reflex. Nie werde ich seine Worte vergessen, fast fürsorglich, väterlich gesprochen: ‚Ich schwöre bei Gott, ich werde Ihre Familie schützen, solange Sie loyal sind.‘ Ich war bereit, ihm zu glauben, mehr noch: Ich wollte ihm glauben! Er hatte mich in den Klauen – mit Haut und Haaren!
Kurz darauf bekam ich eine neue Unterkunft, vergleichsweise komfortabel ausgestattet, allerdings ohne jegliche Verbindung nach draußen, kein Radio, schon gar kein Fernsehen. Aber TM brachte mir zuweilen Zeitschriften. An solchen Tagen hätte ich ihm am liebsten die Füße geküßt. Ich blieb weiterhin in
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