Das Schattenbuch
Google gab sie Carnacki ein, ohne
große Hoffnung.
Die Überraschung war daher umso größer. Die
Suchmaschine spuckte über 27.000 Nennungen aus.
»Hallo!«, entfuhr es Lioba.
»Was ist?«, fragte Arved aus dem Hintergrund.
»Kommen Sie her und stellen Sie sich neben mich. Sehen
Sie selbst.«
Er bahnte sich vorsichtig einen Weg an den Bücherstapeln
vorbei und starrte auf den Bildschirm. »Da steht es
ja!«, wunderte er sich.
Lioba zeigte ihm die Zahl der Nennungen. »Die
können wir unmöglich alle durchsehen«, sagte sie.
»Wir müssen die Suche einschränken.« Also
gab sie als weiteren Suchbegriff Schattenbuch ein.
Nichts. Nirgendwo im ganzen weiten Internet gab es die
Kombination dieser beiden Wörter.
»So hatte ich mir das schon eher vorgestellt«,
murmelte sie. Sie strich den Begriff Schattenbuch und
klickte wahllos eine der angebotenen Seiten für Carnacki an.
»Sieht nach einem Geisterjäger aus«, meinte
Arved erstaunt, der sich dicht neben Lioba gestellt hatte und
angestrengt auf den Bildschirm starrte. Sie konnte sein Deodorant
riechen, mit einer ganz geringen Spur Schweiß vermischt. Es
war ihr nicht zuwider.
In der Tat gab es einen Thomas Carnacki. Er war ein
Okkult-Detektiv, den ein englischer Autor namens William Hope
Hodgson um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erfunden hatte.
Carnacki war der titelgebende Held der Erzählungssammlung Carnacki the Ghost Finder, die 1913 in London erschienen
war. Fast alle Internetseiten, die Lioba danach anklickte, hatten
direkt oder indirekt mit dieser literarischen Gestalt zu tun.
»Carnacki, der Geistersucher«, sinnierte Arved.
»Eine der Novellen ist ja tatsächlich eine
Geistergeschichte, und die zweite Erzählung ist zumindest
dämonisch, wenn man die beiden Frauen betrachtet. Die dritte
hat kein richtiges phantastisches Element. Vielleicht ist es doch
der echte Name des Autors, und er ist bloß nirgendwo
verzeichnet, weil das Buch nur eine winzige Auflage hatte und
wohl kein weiteres von ihm existiert.«
Lioba drehte sich halb zu ihm und sah ihn von unten an.
»Denkbar. Oder es ist wirklich ein Pseudonym. Einen
Augenblick.« Sie sprang auf, wühlte sich wieder wie
ein Maulwurf in ihre Bücherberge und kam schließlich
mit drei dickleibigen Werken hervor.
»Pseudonymenlexika«, erklärte sie und
blätterte sie rasch durch. Sie hatte es erwartet. Nichts.
Mit einem resignierenden Schulterzucken warf sie die Bände
achtlos auf einen der Stapel.
»Sollte es denn wirklich keine Möglichkeit geben,
die Identität des Autors herauszufinden?«, fragte
Arved mit einer deutlichen Spur Verzweiflung in der Stimme.
»Warum liegt Ihnen so viel daran?«, fragte Lioba
zurück.
»Weil mich die Geschichten so fasziniert haben wie noch
nie ein Buch. Ich weiß auch nicht warum«, versuchte
Arved zu erklären.
»Und weil Sie sonst nichts zu tun haben«,
versetzte Lioba. Sobald sie diese Worte gesagt hatte, taten sie
ihr Leid. Sie hatte Arved nicht verletzen wollen. Jetzt sah er
aus wie ein geprügelter Hund. Vielleicht brauchte er ja
irgendeine Aufgabe, irgendein Ziel, an dem er sich wie an den
Kaffeetassen festhalten konnte. Er hatte seinen Beruf verloren,
seine Berufung verloren, seinen Gott und damit seinen
Lebensmittelpunkt. Er war buchstäblich durch die Hölle
gegangen, aber innerlich leer aus ihr herausgekommen. Sein ganzes
Leben lag in Scherben. Vielleicht wäre es für ihn
besser gewesen, wenn er finanzielle Sorgen gehabt und sich daher
um einen Broterwerb hätte kümmern müssen. So
erwies sich das Erbe von Lydia Vonnegut als eine letzte Teufelei,
als etwas Gutes, das Böses hervorgebracht hatte. »Na,
dann holen Sie doch mal das Buch aus dem Wohnzimmer. Mal sehen,
ob es noch andere Hinweise auf den Autor gibt.«
Freudig drehte sich Arved um und huschte aus dem Raum. Wenige
Sekunden später kam er mit dem Buch unter dem Arm
zurück. Er reichte es Lioba und trat einen Schritt nach
hinten, als erwarte er, sie würde nach ihm schnappen.
Lioba suchte nach einem Druckvermerk, nach einem Kolophon oder
anderen Hinweisen darauf, wo, von wem und wann das Buch gedruckt
worden war. Sie fand nichts. »Dem Einband und Papier nach
zu urteilen, könnte das Buch in den späten Siebzigern
oder frühen Achtzigern entstanden sein. Die Illustrationen
deuten ebenfalls darauf hin. Aber das bringt uns nicht viel.
Nirgendwo steht, wie der Illustrator heißt. Aber vielleicht
wäre auch das nur ein Pseudonym
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