Das Schattenbuch
gewesen. Ehrlich gesagt,
finde ich die Bilder etwas grob und unbeholfen.«
»Also, mir gefallen sie«, erwiderte Arved mit
einem gewissen Trotz in der Stimme. »Sie fangen die
Atmosphäre gut ein, auch wenn sie eigentlich keine
Ereignisse aus den Geschichten illustrieren.«
Lioba hielt sich den ersten Holzschnitt dicht vor die Augen.
Sie sollte sich vielleicht doch bald mit dem Gedanken anfreunden,
eine Brille zu tragen. Die Linien verschwammen, bogen sich,
ordneten sich neu. Unter dem eigentlichen Bild waren einige
weitere schwarze Linien, die Lioba zuerst als künstlerischen
Unglücksfall angesehen hatte. Sie kniff die Augen zusammen
und hielt das Blatt noch dichter vor ihre Nase. Nein, das war
eine Signatur, nicht wie üblich mit Bleistift
ausgeführt, sondern mit einem feinen schwarzen
Filzschreiber. Deshalb hatte es zuerst wie eine Unsauberkeit des
Drucks gewirkt. So ein Banause! Warum hatte der Illustrator
– Lioba weigerte sich, ihn einen Künstler zu nennen
– nicht gleich einen Leuchtstift benutzt! Sie verglich die
seltsame Signatur mit denen der beiden anderen Holzschnitte. Alle
waren gleich. Sie wies Arved darauf hin, der zugab, dass er diese
Zeichen noch gar nicht bemerkt hatte.
»Was lesen Sie daraus?«, fragte Lioba ihn.
Arved betrachtete sie eingehend, zog manchmal die rechte Braue
hoch, hielt das Buch zuerst weit von sich weg, dann wieder ganz
nah an seine Augen und sagte schließlich: »Für
mich sieht das aus wie Vampir.« Er hielt Lioba das
aufgeschlagene Buch hin wie ein Messdiener das Evangeliar am
Ambo.
»Sie könnten Recht haben«, meinte die
Antiquarin. »Das erinnert mich an irgendetwas.« Sie
massierte sich die Stirn. Plötzlich wusste sie, dass sie
schon einmal ähnlich unbeholfene Illustrationen in einem
Buch ganz anderer Art gesehen hatte. Es war in einem großen
Konvolut Vampir-Literatur gewesen, das sie vor nicht langer Zeit
angekauft hatte. Sie stöberte in ihrem Arbeitszimmer herum,
schichtete die Stapel um, denn in den Regalen konnte es sich
nicht befinden. Oder etwa doch? Sie erhob sich, seufzte und
versuchte die Regale abzusuchen, was nicht leicht war, da alle
unteren Borde von Bücherhaufen verdeckt waren. Erinnere
dich, reiß dich zusammen, denk nach, ermahnte sie sich. Es
war etwas über moderne Vampire gewesen, mit unsäglichen
Illustrationen versehen, nicht mit Originalen, sondern nur mit
billigen Reproduktionen.
Da war es! Es stand zwischen Hambergers zweibändigem Werk
über Vampirismus und Vincent Hillyers Vampires: Der
Highgate-Vampir, ein geheftetes anonymes Pamphlet mit vier
Illustrationen, die Friedhöfe, Fledermäuse und halb
entblößte, recht merkwürdig proportionierte
Frauen zeigten – allesamt Schöpfungen von
»Vampyr«, wie sich der Künstler wenig
phantasievoll nannte. Aber immerhin war eine Kontaktadresse
angegeben!
Mit einem spitzen, kleinen Triumphruf lief Lioba auf Arved zu,
stolperte dabei über ein paar heimtückisch am Boden
lauernde Bücher, geriet ins Straucheln und wurde von ihrem
Gast ritterlich aufgefangen. Für einen Herzschlag
spürte sie seinen überraschend festen Griff an ihrem
Oberarm. Sie richtete sich wieder auf, mit dem Heft in der Hand.
Er war so nah. Sie spürte seinen Atem. Dieser Herzschlag
schien eine ganze Ewigkeit zu dauern. Etwas riss an ihrem
Innersten. Seine blassblauen Augen mit den langen Wimpern
darüber waren so schön wie eine Seele. Wie zwei Seelen.
Rechts. Links. Getrennt. Ihr wurde schwindlig. Er spürte es
und nahm auch die andere Hand zur Hilfe. Packte sie bei den
Schultern. Sein Blick war plötzlich fester als sein Griff.
Nichts Zögerliches lag mehr darin.
»Alles in Ordnung?«, fragte er sie. Dann schien er
zu erschlaffen und trat einen Schritt zurück.
Lioba schluckte und strich sich mit einer mechanischen
Bewegung das Kleid glatt. Dann zeigte sie ihm wortlos das
Impressum des obskuren Heftchens. Dort stand: Gedruckt 2003 in
einer Auflage von fünfzig Exemplaren. Illustrationen von
Vampyr. Kontaktadresse: c/o Valentin Maria Pyrmont,
Korneliusmarkt 42a, Kornelimünster.
»Morgen?«, fragte er nur.
Sie lächelte. »Morgen.«
4. Kapitel
Um neun Uhr fuhr Lioba mit ihrem kleinen Renault Twingo bei
Arved vor. Arved saß schon beinahe eine ganze Stunde
reisefertig und in Vorfreude in seinem aufgeräumten
Wohnzimmer und sprang nach draußen, als Lioba hupte. Er
schlug vor, den Bentley zu nehmen, doch die Antiquarin
schüttelte
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