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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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in
unerklärlichem Schatten – in einem Schatten, der sich
auszudehnen und wieder zusammenzuziehen schien, als ob er
lebte.
    Dieser Ort brachte Arved Erinnerungen zurück, die er
lieber vergessen wollte – Erinnerungen an ein schreckliches
Abenteuer in Sphären jenseits von Raum und Zeit, in denen
das Grauen Alltag und der Irrsinn Normalität waren. Noch
immer konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob er jenen Abstieg
in die Hölle wirklich erlebt hatte, doch plötzlich war
er nicht mehr sicher, dass die Suche nach Thomas Carnacki
wirklich eine gute Idee war.
    Er stand vor der Tür und zögerte. Es gab kein
Namensschild. Er spürte von hinten einen kleinen Stoß
in die Rippen. »Na los«, zischte Lioba. Also riss
Arved sich zusammen und drückte auf die Klingel.
    Die Tür wurde so schnell geöffnet, als habe man das
Herannahen des unangemeldeten Besuches bereits hinter den
zerschlissenen Gardinen verfolgt. Im Rahmen stand ein
mittelgroßer, unglaublich dürrer Mann, dem das graue,
fleckige Hemd um den Körper schlotterte. Er hatte einen
grauen Vollbart mit dunkelbraunen Strähnen und einen langen
Pferdeschwanz, der hin und her nickte, als er von Lioba zu Arved
und wieder zu Lioba schaute. Seine Augen waren hinter einer
schwarzen Brille verborgen, deren breiter, ebenfalls schwarzer
Bügel sie auch zur Seite hin verdeckte.
    Ist er etwa blind?, schoss es Arved durch den Kopf. Ein
blinder Illustrator, das wäre doch etwas zu bizarr. Nein, er
schien seine Besucher genau zu erkennen.
    »Haben wir einen Termin?«, fragte er mit einer
hohen, brüchigen Stimme, die irgendwie verstellt klang.
    Lioba drängte sich neben Arved. »Nein, das nicht,
aber wir sind Bewunderer Ihrer Arbeit«, sagte sie rasch.
Arved atmete auf. Er hätte nichts zu sagen gewusst, hatte
sich nur auf die Suche nach diesem Haus konzentriert und sich
keinen Plan für den Fall zurechtgelegt, dass sie es fanden.
Das sah ihm ähnlich.
    Der Mann lächelte. Runzeln und Falten spielten auf seinem
Gesicht. Er war mindestens sechzig. »Womit kann ich Ihnen
dienen?«, fragte er mit seiner hohen, unecht klingenden
Stimme.
    »Wir sind auf der Suche nach einem Buch mit drei
Illustrationen von Ihnen«, erklärte Lioba und
lächelte so verführerisch, wie Arved sie noch nie
lächeln gesehen hatte. Doch der alte Mann wich keinen
Schritt zur Seite. Arved hörte hinter sich erneut etwas
rascheln und drehte sich um. Etwas Kleines, Schwarzes war unter
einen Dornbusch gehüpft. Als er sich wieder dem
Künstler zuwandte, glaubte er einen hämischen Zug um
dessen Mundwinkel zu bemerken.
    »Können Sie das etwas präzisieren?«,
fragte der Illustrator.
    »Das Werk trägt den Titel Das
Schattenbuch«, sagte Lioba geduldig, ohne ihr
wunderbares Lächeln zu verlieren.
    »Das ist lange her«, meinte der Künstler.
    Immerhin, dachte Arved, wir haben den Richtigen vor uns! Er
preschte vor: »Ihre Holzschnitte sind einfach grandios. So
ausdrucksstark. Wir haben das Buch durch einen großen
Zufall bekommen und suchen nun überall nach einem weiteren
Exemplar, das wir an einen Kenner verschenken möchten, aber
weder Buchhändler noch Antiquare können uns eins
beschaffen. Da dachten wir, dass Sie uns vielleicht weiterhelfen
können.«
    Der alte Künstler lächelte und bat die beiden
endlich herein.
    Es war unbeschreiblich. Das Innere des Hauses teilte sich
Arved als ein einziges Chaos mit. Liobas unaufgeräumtes
Arbeitszimmer war dagegen ein steriler Ausstellungsraum in einem
Museum. Der Künstler führte ihn und Lioba durch eine
mit Unrat vollgestopfte Diele in einen Raum, von dem nicht klar
war, zu welchen Zwecken er dienen mochte. An den Wänden
standen Kellerregale aus ungeheizter Kiefer, und auf ihnen lagen
Dinge, die sich jeder sofortigen Erkenntnis entzogen. Arved
bemerkte längliche, runde, ovale, kantige,
quaderförmige Umrisse; manche davon lösten sich beim
näheren Hinsehen zu Luftpumpen, Hobeln, Kerzen,
zerknüllten Taschentüchern, Radios, kleinen Reifen,
Verlängerungsschnüren, Flaschen und Dosen auf, andere
weigerten sich hartnäckig, erkannt und begriffen zu werden.
Es gab keine Sitzmöbel und keinen Schrank. Überall auf
dem Boden lagen Graphiken umher, dazwischen standen Teller mit
Essensresten, leere und volle Getränkedosen, in der Mitte
des Zimmers befand sich ein Tisch, von dessen Platte kaum etwas
zu sehen war, Puppen lagen umher, Messer, einige Bücher. Ein
blinder Spiegel stand gegen eine

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