Das Schattenbuch
Rücksitz. Eigentlich war
Ängstlichkeit kein herausragender Zug von ihr, aber sie
hatte nicht vor, ihr Glück auf die Probe zu stellen. Also
fuhr sie mit unverminderter Geschwindigkeit an dem Anhalter
vorbei.
Sie hatte ihn erkannt, als sie ihn beinahe erreicht hatte. Es
war Valentin Maria Pyrmont. Für einen winzigen Augenblick,
kürzer als ein Gedanke braucht, um sich in Nichts
aufzulösen, hatte sie bremsen und ihn einladen wollen,
mitzufahren. Doch als sie seine Augen sah, war ihr Entschluss wie
weggefegt.
Er trug keine Brille. Dennoch waren seine Augen nichts als
zwei schwarze Löcher. Sie wirkten wie Höhlen, die in
die Unendlichkeit führten. Fast hatte Lioba geglaubt,
winzige Sterne in ihnen glimmen zu sehen. Im Rückspiegel sah
sie, dass er ihr zuwinkte. Es wirkte nicht wie die verzweifelte
Geste eines Gestrandeten, sondern eher wie der gelassene
Gruß eines Wissenden. Lioba schlug das Herz bis zum Hals.
Sie raste über die Landstraße, bis der Anhalter vom
schwarzen Wald aufgesogen zu werden schien. Gebüsch und
Bäume säumten den Weg, dahinter lagen Wiesen wie dunkle
Tücher in den Abendschatten.
Erst als sie Aachen-Brand erreicht hatte, wurde sie
allmählich ruhiger. Kurz vor der Autobahnauffahrt sah sie
rechts neben der Straße einen großen Platz, auf dem
mehrere Oldtimer standen. Sie brauchte unbedingt eine Pause.
Lioba stellte ihren Twingo neben einen Maserati Quattroporte,
schaltete den Motor ab und legte den Kopf auf das Lenkrad, das
klebrig vom Schweiß ihrer Hände war.
Herr im Himmel, seufzte sie stumm. Was ist hier los? Hatte sie
eine Vision gehabt, oder hatte sie Vampyr tatsächlich
gesehen? Bestimmt war es nur irgendein Anhalter gewesen, den sie
wegen der Dunkelheit nicht deutlich hatte sehen können. Aber
wieso hatte der Vermieter in Kornelimünster Pyrmont schon
seit drei Monaten nicht mehr gesehen, wo Lioba und Arved ihm noch
gestern begegnet waren? Und vorhin, flüsterte es in ihr. Wer
war dieser Pyrmont wirklich?
Jemand klopfte gegen die Seitenscheibe. Ruckartig fuhr Lioba
hoch. Vampyr! Die schwarzen, sternglühenden Augen! Sie
zuckte von der Scheibe zurück.
»Ist Ihnen nicht gut? Brauchen Sie Hilfe?«, fragte
besorgt ein junger, dünner Mann mit einem Pferdeschwanz.
Lioba atmete tief durch, kurbelte die Scheibe ein wenig herunter
und lächelte ihn erschöpft an.
»Alles in Ordnung. Ich bin nur ein wenig müde.
Vielen Dank für Ihre Sorge.« Hoffentlich hatte er
nicht gesehen, was sie auf dem Rücksitz transportierte. Ein
rascher Blick nach hinten verriet ihr, dass niemand die
Schätze ahnen konnte, die unter der sorgsam ausgebreiteten
Decke lagen.
Der junge Mann folgte kurz ihrem Blick, sah aber offenbar
nichts Bemerkenswertes. Er wünschte ihr noch einen guten Tag
und ging zu einem VW Käfer, der ein wenig hinter dem
Maserati stand. Bevor er die Wagentür öffnete, warf er
ihr einen letzten zweifelnden Blick zu. Sie nickte aufmunternd,
er stieg ein und fuhr los.
Lioba seufzte erleichtert. Sie sah sich um. Spürte, wie
etwas Großes, Stummes sich auf den Asphalt senkte. Fort,
nur fort von hier. Lioba drehte den Zündschlüssel und
setzte ihren Weg nach Trier fort.
Zu ihrem eigenen Erstaunen fand sie einen Parkplatz knapp
neben ihrem Haus und machte sich sofort daran, ihren
erstaunlichen Fang aus dem Wagen zu schleppen.
Als sie die Bilder vorsichtig auf den Wohnzimmerboden gelegt
und die bereits gerahmten Drucke gegen die Regale gestellt hatte,
genehmigte sie sich erst einmal einen tiefen Schluck aus der
Weinflasche, die noch auf dem kleinen Tisch stand. Die
Spätlese war zu warm, aber sie wirkte. Dann setzte sich
Lioba mit einem Seufzer in ihren Sessel und ließ die Blicke
über die Bilder am Boden und vor den Regalen gleiten. Was
für ein Tag! Sie nahm noch einen Schluck – den letzten
–, stand auf, schwankte plötzlich ein bisschen, hielt
sich am Tisch fest – und der Tisch kippte um. Der
Aschenbecher ergoss seinen grauen Inhalt auf den Teppich. Die
Weinflasche kullerte zu Boden. Lioba schaffte es gerade noch, die
Flasche zu erwischen, bevor sie Schaden anrichten konnte, doch
der Tisch stürzte auf die gerahmten Bilder. Er schlug gegen
den größten Piranesi und riss die kleineren Bilder vor
ihm mit sich. Die Tischkante knallte auf einen Bresdin, der kaum
größer als eine Postkarte war. Als es klirrte, drehte
es Lioba den Magen um.
Mit einem Ruch schob sie den Tisch beiseite und besah sich den
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