Das Schattenbuch
erinnern sollte,
tatsächlich aber war es nur unbeholfen und grob.
Lioba zuckte die Achseln. »Warum nicht? Zweihundert
Euro, und die Sachen gehören mir. Einverstanden? Ich nehme
sie sofort mit.«
Der Vermieter zog die buschigen Brauen zusammen. »Na
gut. Packen Sie den ganzen Krempel ein. Aber ich will, dass Sie
mir das quittieren.« Umständlich zog er aus dem
Jackett ein Blatt Büttenpapier und einen Füller hervor,
der genauso wenig zu diesem Mann passte wie der
Nadelstreifenanzug. Er malte einige Zeilen und hielt sie Lioba
hin. »Hier unten bitte unterschreiben.« Sie musste
grinsen, während sie ihren Namen unter das Schreiben setzte,
in dem sie sich verpflichtete, unverzüglich das Geld zu
zahlen und noch am selben Abend den Müll aus dem Haus
transportiert zu haben. Es war lange her, dass sie einen
ähnlich guten Vertrag unterzeichnet hatte.
Der Mann nahm ihr das Blatt aus der Hand, faltete es
sorgfältig und steckte es behutsam weg, als wäre es ein
kostbarer Schatz. »Ziehen Sie nur die Tür hinter sich
zu, wenn Sie fertig sind. Ich muss noch nach Aachen. Da habe ich
wenigstens ein paar anständig vermietete Häuser.«
Er hielt erwartend die Hand auf.
Lioba zahlte sofort und war froh, als der grobschlächtige
Mann in dem unpassenden Nadelstreifenanzug das Haus
verließ. Sie rieb sich die Hände und machte sich
fröhlich pfeifend an die Arbeit.
Sie untersuchte jedes Fetzchen Papier, und dabei fielen ihr
erstaunliche Dinge in die Hand. Neben dem bereits bemerkten
Piranesi fand sie noch etliche andere aus der Carceri-Serie, außerdem weitere Bresdins, einige
Graphiken von Felicien Rops und Max Klinger, von Kubin, Bellmer
und Giger. Es war ein Sammelsurium phantastischer Radierungen des
achtzehnten bis zwanzigsten Jahrhunderts von ziemlich
großem Wert, zumeist in ungeschützten Blättern.
Nur drei Werke waren sorgfältig gerahmt; sie hatten ganz
zuunterst in dem Tohuwabohu gelegen.
Carnackis Brief jedoch fand Lioba nicht. Über ihren
Kunst-Entdeckungen vergaß sie zunächst den Grund ihres
Besuchs in Kornelimünster. Erst als sie alle Bilder sorgsam
auf dem Rücksitz ihres Renault Twingo verstaut hatte,
erinnerte sie sich daran, dass sie eigentlich aus einem ganz
anderen Grund hier war.
Sie legte eine Decke, die sie im Kofferraum für
Notfälle und Pannen bereit hielt, über die Kunstwerke,
damit niemand auf den Gedanken kam, den Wagen aufzubrechen, und
machte sich daran, alle Papierschnipsel und Schriftstücke zu
durchsuchen. Vieles war von Essensresten und
Getränkespritzern angeschmutzt, was die Suche nicht gerade
zu einer Freude machte. Lioba legte alles, was sie
durchstöbert hatte, auf einen Haufen, den sie, wenn sie
fertig war, in eine der Nachbarmülltonnen stopfen wollte.
Das war zwar nicht ganz korrekt, fiel für sie aber unter die
Rubrik Notwehr. Schließlich hatte sie dem Vermieter
versprochen, das Haus zu räumen und dafür einen wahren
Schatz bergen dürfen. Auch die Werke Vampyrs fanden vor
ihren Augen keine Gnade; sie wanderten ebenfalls auf den
Abfallhaufen.
Es dauerte vier Stunden, bis sie endlich alles durchgeschaut
hatte. Der Brief des Autors war nicht darunter gewesen und auch
sonst keinerlei Hinweis aus das Schattenbuch und seinen
Urheber.
Eine halbe Stunde später waren die meisten
Mülltonnen in der Nachbarschaft mit einem oder mehreren
echten Vampyrs geadelt worden. Dafür mussten sie auch den
anderen Dreck ertragen. Einige litten nun an akuter
Verstopfung.
Lioba machte sich mit gemischten Gefühlen auf die
Rückfahrt nach Trier. Es war ihr nicht gelungen, mehr
über Thomas Carnacki zu erfahren, dafür lag auf ihrem
Rücksitz Druckgraphik von einem Wert im fünfstelligen
Euro-Bereich. Verrückt, dachte sie, man möchte das eine
haben und bekommt das andere. Es geschieht immer das, mit dem man
am wenigsten rechnet. Denk an damals, dachte sie. Nein, denk
nicht daran. Die Vergangenheit ist tot. Jede Minute gleitet ein
Stück Wirklichkeit in die Vergangenheit und stirbt, erstickt
an der eigenen Erstarrung. Sie gab Gas.
Nun spürte sie die Anstrengungen des Tages. Kurz hinter
Kornelimünster befand sich ein kleines Waldgebiet, in dem es
schon zu dämmern begann. Mitten darin stand, lässig an
die Leitplanke in einer lang gezogenen Kurve gelehnt, ein
dürrer Anhalter. Vielleicht ein Wanderer. Er tat Lioba Leid,
aber sie wollte jetzt niemanden mitnehmen – nicht mit
dieser wertvollen Fracht auf ihrem
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