Das Schattenbuch
Schaden. Der Bresdin – es handelte sich um das Blatt Die
Jäger, vom Tod überrascht – hatte genau im
Kopf des linken Jägers ein kleines Loch, eher einen
Durchstich. Der rechte Jäger war heil geblieben. Und der vor
ihnen kauernde Tod schien zu lachen.
Das Deckglas war völlig zersplittert. Wütend
über sich selbst trug Lioba das Bild waagerecht in die
Küche und leerte die Splitter in den Mülleimer. Dann
setzte sie sich an den kleinen Tisch mit der geblümten
Wachstuchdecke und hob den Rahmen vorsichtig von dem Bild. Der
Schaden war gering, aber sichtbar. Man konnte die Radierung
möglicherweise noch retten. Lioba drehte sie um. In der Tat
hatte sich ein kleiner Splitter durch das alte Papier gebohrt.
Doch dies interessierte sie plötzlich überhaupt nicht
mehr.
Die Rückseite der kleinen Radierung war beschrieben. In
einer Handschrift, die zugleich großspurig ausgreifend und
zart war.
Es war Thomas Carnackis Brief an Valentin Maria Pyrmont.
6. Kapitel
Arved hatte den ganzen Tag immer wieder in dem Schattenbuch
gelesen. Besonders die erste Novelle, die Gespenstergeschichte,
hatte es ihm angetan. Es lag so viel Verzweiflung in der Liebe
des Büchersammlers und so viel Einsamkeit im traurigen Leben
der Sammlerin. Sie hatten gemeinsame Interessen, gemeinsame
Probleme, eine gemeinsame Lebensanschauung, doch die
Unfähigkeit der beiden, mit ihrem Leben und miteinander
umzugehen, führte nur in die Katastrophe, wo doch die
Erlösung so nah war.
Arved saß auf seinem leise knirschenden Ledersofa und
hatte die Welt vergessen. Seine Katzen waren nach dem
Frühstück verschwunden; wahrscheinlich spielten oder
jagten sie im Garten. Seit das Buch im Haus war, waren sie fast
den ganzen Tag draußen. Ihr Ernährer schien nicht mehr
von Bedeutung zu sein.
Gegen Abend riss ihn das Telefon aus seinen Träumen.
»Ich habe den Brief«, frohlockte eine aufgekratzte
Lioba Heiligmann am anderen Ende. Bevor der verblüffte Arved
etwas darauf erwidern konnte, las Lioba das kurze
Schriftstück vor:
»Sehr geehrter Herr Pyrmont, als großer Bewunderer
Ihrer Kunst wäre es eine gewaltige Ehre für mich, wenn
Sie sich entschließen könnten, mein Werk Das
Schattenbuch mit drei Holzschnitten zu versehen. Die
beiliegenden zweitausend Mark sind Ihr Honorar. Falls Sie den
Auftrag annehmen, bitte ich Sie, die Illustrationen nebst dem
Text an die folgende Adresse zu schicken: Jakob Blumenberg,
Kurfürstenstraße 19a, 54.516 Wittlich. Mit
vorzüglicher Hochachtung vor Ihrem Talent, Thomas
Carnacki.«
»Wie haben Sie das geschafft?«, wollte Arved
wissen.
Lioba berichtete von ihrem Abenteuer und dem
anschließenden Missgeschick. Dann machte sie eine
erwartungsvolle Pause.
Arved wunderte sich über seine Empfindungen. Nun, da es
einen Brief von Carnacki gab, einen Beweis seiner Existenz,
verloren die Geschichten für ihn einen kleinen Teil ihres
unwirklichen Reizes. Jetzt kannten sie seine Adresse, und es war
ein Leichtes, den Autor aufzusuchen. Er war nicht mehr die
mythische Gestalt, zu der Arved Carnacki während der
Lektüre gemacht hatte. Er selbst hatte die Suche
vorangetrieben und damit das Gegenteil von dem erreicht, was er
eigentlich wollte.
Als Lioba die Pause offensichtlich zu lang wurde, fragte sie:
»Wann machen wir uns auf den Weg nach Wittlich?«
»Für heute ist es schon zu spät. Morgen
früh?«
»So gegen zehn Uhr? Wir treffen uns an der angegebenen
Adresse, dann hat es jeder von uns etwa gleich weit.« Am
anderen Ende knackte es.
Verblüfft und verwirrt ging Arved zurück ins
Wohnzimmer. Er sollte sich freuen – freuen über die
Adresse, über Liobas Einsatz, darüber, dass er sie
schon morgen wiedersehen würde. Seufzend setzte er sich,
schlug das Buch auf und trank einige Sätze wie kostbaren
Wein.
So nah schon am Ziel. Und wenn er Carnacki
gegenüberstand? Was dann? Was würde er ihn fragen? Um
was ihn bitten? Dann wäre die Suche zu Ende, das Ziel
erreicht und zerstoben. Und alles wäre wieder wie
vorher.
Wirklich?
Würde je wieder etwas wie vorher sein? Hatten ihn diese
Geschichten nicht bereits verändert? Er schüttelte den
Kopf. Dumme Gedanken! Wie kann eine Erzählung ein Leben
beeinflussen?
Oder beeinflusst das Leben die Literatur?
Benommen warf er das Buch auf den weißen Couchtisch.
Etwas wisperte und flüsterte in ihm. Etwas, das nicht aus
ihm selbst kam. Er stand auf, ging in die Küche, butterte
eine Scheibe
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