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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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voller schwappender Weingläser an ihrem Tisch
vorbeibalancierte. Zu Arved meinte sie: »Sind Sie Ihre
Gespenster losgeworden? Können wir gehen?«
    Er nickte, und nachdem sie bezahlt hatten – jeder
für sich –, verließen sie das Domstein und schlenderten über den Hauptmarkt, auf dem Stände
mit Blumen und Obst um die Aufmerksamkeit der Vorbeigehenden
buhlten.
    Zuerst schlug Sankt Gangolf die zweite Stunde nach Mittag,
dann fiel der Dom ein. Touristengruppen folgten den bunten
Fähnchen ihrer Führer, es wurden Fotos von mehr oder
weniger glücklich arrangierten Reisenden gemacht, die Sonne
hatte alle Schatten zersetzt, das mittelalterliche Marktkreuz
ragte wie eine Bühne in die Brandung der Passanten.
    »Wir nehmen meinen Wagen. Ihrer würde in der
Gegend, in die wir uns nun wagen müssen, zu sehr
auffallen«, meinte Lioba zu Arved, der schweigend neben ihr
herlief und meilenweit weg zu sein schien. Er nickte stumm, sah
sie nicht an.
    Du hast dich weit vorgewagt, mein Junge, dachte sie belustigt,
aber sie war froh, dass er seine linkischen
Annäherungsversuche aufgegeben hatte. Sie war fertig mit der
Männerwelt, das hatte sie sich schon damals geschworen.
Daran konnte auch ein scheuer Ex-Priester namens Arved Winter
nichts ändern.
    * * *
    Sie fuhren in den Trierer Norden, unterquerten die Bahnlinie
und bogen links in eine Straße ein, die kaum mehr als ein
asphaltierter Feldweg war. Das Schild Durchfahrt verboten ignorierte Lioba. Der kleine Renault holperte über die
unebene Straße an Kleingärten und Fabrikhallen vorbei.
Als es schon aussah, als würde der Weg im Nirgendwo enden,
mündete die Straße in einen Asphaltpfad, von dem aus
eine Handvoll Häuserreihen wie Krebsgeschwüre bis in
den nahen Wald hineinstachen.
    Die Riverisstraße.
    Die zweistöckigen, ehemals ockerfarbenen Häuser
boten einen schrecklichen Anblick. Lioba hatte von dieser
Straße der Verlorenen und Hoffnungslosen gehört, war
aber noch nie hier gewesen. Die meisten Haustüren waren
eingetreten oder standen weit auf, und dahinter zeigten sich ins
Zwielicht führende Flure voller Gerümpel und Graffiti.
Auch die Außenwände waren beschmiert. Viele
Rollläden waren heruntergelassen, eingedrückt,
beschmiert. Lioba hielt mitten auf der Straße an und wusste
nicht, ob sie sofort wieder wenden und fliehen oder wirklich
dieses Gebiet betreten sollten. Abfallhaufen lagen am
Straßenrand, aufgebrochene Autowracks rosteten in
Haltebuchten vor sich hin, Wohnwagen versperrten die
Durchfahrten.
    Sie saßen schweigend und ungläubig da und
beobachteten, wie zwei Jugendliche – eigentlich kaum mehr
als Kinder – mit Jeanshosen, deren Hintern ihnen in den
Kniekehlen hing, und schräg aufgesetzten Baseballkappen sich
einem glatzköpfigen Jungen näherten. Der Junge erkannte
die Gefahr zu spät. Die beiden packten ihn, einer rechts,
der andere links, und schüttelten ihn durch. Sie
brüllten ihn an, und der Junge weinte und schluchzte. Sie
wollten ihm etwas abnehmen, das er in der Hand hielt.
    »Wir müssen ihm helfen«, sagte Lioba und
hatte schon den kleinen Wagen verlassen.
    Arved folgte ihr zögerlich. Lioba lief auf die
Kämpfenden zu. Der Junge lag bereits auf den geborstenen
Betonplatten; die anderen beiden waren über ihn gebeugt und
schlugen auf ihn ein. Liobas Wanderstiefel knallten laut
über den Boden. Der angegriffene Junge gab keinen Laut mehr
von sich, und auch seine Feinde kämpften nun in
gespenstischer Stille. Lioba hörte neben ihren eigenen
Schritten nur noch die von Arved. Die Sonne schwand, Wolken
türmten sich auf, Schatten ballten sich zusammen. Sie
schienen aus dem am Boden liegenden Jungen zu kommen, wurden
fest, drängten sich zwischen ihn und die Angreifer, und
plötzlich erstarrten alle Bewegungen. Auch Lioba blieb
stehen, Arved ebenso, zumindest hörte sie ihn hinter sich
nicht mehr, nur der Schatten regte sich noch. Er wuchs.
Türmte sich auf wie eine Säule. Warf Schwärze auf
die Fassaden aus gelblichem Putz und Glas, auf die Graffiti, den
Unrat, die überquellenden Mülltonnen. Irgendwo zuckte
eine Gardine zurück, wie Lioba aus den Augenwinkeln sah.
Dann löste sich die Erstarrung.
    Die beiden Angreifer ließen von ihrem Opfer ab, das
einen schrecklichen Schrei ausstieß. Sie rannten weg, ohne
den Jungen beraubt zu haben. Lioba erreichte ihn, bückte
sich zu ihm hinunter – und Brandgeruch stieg ihr in die
Nase. Der Schatten war verschwunden.

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