Das Schattenbuch
Aber Hose und Hemd des
Jungen wiesen Brandflecken auf. Er schrie immer noch, ob aus
Schmerz oder vor Angst, vermochte Lioba nicht zu sagen. Nun stand
Arved neben ihr. Sie krempelte die Ärmel des Baumwollhemdes
hoch, das der Junge trug, und zwar dort, wo sich einer der
Brandflecken befand, doch die Haut darunter war nicht verletzt.
Der Junge rappelte sich auf, stieß die Erwachsenen weg und
lief davon. Lioba erhob sich und sah Arved fragend an.
Er nagte an seiner Unterlippe. »Erinnert Sie das nicht
an etwas?«, fragte er und sah sich um.
Lioba gab keine Antwort. War nicht alles möglich? Hatte
sie das nicht durch ihr früheres Abenteuer mit Arved Winter
gelernt? War sie nicht mit ihm durch die Hölle geschritten?
War es möglich, dass sich die Hölle noch immer nicht
ganz geschlossen hatte? Dass sie sich dort, wo Arved war, nie
wieder ganz schließen würde? Lioba bekreuzigte sich.
Arved bemerkte es und lächelte schwach.
»Wessen Beistand möchten Sie herbeirufen?«,
fragte er matt.
»Das sollten Sie am besten wissen«, gab sie
zurück. Der Brandgeruch schwebte noch immer in der Luft; er
schien sich geradewegs um sie beide zu konzentrieren.
»Kommen Sie. Wir sind hier, um etwas zu
überprüfen.«
Als sie die Stelle des Überfalls hinter sich gelassen
hatten, verschwand der Brandgestank.
Das erste Haus der zweiten Reihe, das der Drucker beschrieben
hatte, sah nicht schlimmer und nicht besser aus als der Rest
dieses Viertels. Lioba atmete tief durch, als sie vor der
gesprungenen Glastür des Hauses standen. Der untere Teil war
mit einer Spanplatte vernagelt. Die Schildchen neben den
Klingelknöpfen waren ausnahmslos von Hand beschriftet; der
eine hatte nach rechts geneigt geschrieben, der andere nach links
geneigt, ein weiterer Name stand in unbeholfener Schreibschrift
da. Carnacki stand nirgendwo.
Arved schaute immer wieder nervös hinter sich. »Wir
sollten gehen«, meinte er.
»Gleich«, sagte Lioba. Und drückte mit der
flachen Hand gegen die Klingelknöpfe.
Tatsächlich wurde ihnen geöffnet. Eine
Gegensprechanlage gab es hier natürlich nicht, so gelangten
sie unbehelligt ins Treppenhaus. Leere Bierdosen und
Pizzaschachteln lagen in seltsamen Mustern auf dem Boden, und ein
scharfer Gestank nach Urin zog durch die Luft. Lioba ging auf die
Treppe zu. Die Wände waren mit kryptischen Schriftzeichen
bedeckt. Von irgendwo drang harte Rockmusik. Und Lioba erkannte
auch den beißenden, grasigen Geruch des Rauschgiftes, der
zusammen mit der brutalen Musik herbeischwappte. Mit fahrigen
Bewegungen kramte sie in ihrer Handtasche nach einem neuen
Zigarillo und zündete ihn an. Der Rauch bildete Muster, die
ihr gar nicht gefielen.
»Erster Stock«, sagte sie nach einem tiefen Zug.
»Rechts vom Treppenhaus, hat der Drucker gesagt.«
Sie stiegen hoch. Hier lag zwar kein Unrat umher, und es stank
nicht nach Urin, aber ein schwerer, dumpfer Geruch drückte
auf den Flur – der Duft des Exzesses.
Die Tür rechts neben dem Treppenhaus trug keinen Namen.
Lioba und Arved standen lange unschlüssig vor ihr;
gemeinsames Zögern verband sie, machte sie stark und schwach
zugleich. Dann schauten sie sich an. Ihr Blick war eine einzige
Frage.
Beinahe fünfundzwanzig Jahre.
Unwahrscheinlich, dass Thomas Carnacki – oder wie immer
sein wahrer Name lauten mochte – noch hier lebte.
Fünfundzwanzig Jahre! Lioba schüttelte den Kopf und tat
einen weiteren tiefen Zug. Die Asche des Zigarillos fiel auf den
Boden, es kümmerte sie nicht. Hier konnte nichts mehr
verkommen, hier war alles verkommen. Die Rockmusik drang leiser
bis hierher, doch andere Geräusche drängten sich nun
auf: Gezank, Stöhnen von Schmerz oder Lust. Lioba
durchrieselte es, als sie es hörte. Bücher, staubige,
tote Bücher waren ihr geblieben, Geld, doch was nützte
es ihr? Sie unterstützte etliche kirchliche Gemeinschaften
damit, nicht zuletzt die Borromäerinnen, wie um sich von
ihrem früheren Leben freizukaufen. Sie wusste, dass Arved
sich in ihr gewaltig irrte. Er würde es schon noch früh
genug bemerken. Er sah in ihr jemand, der sie nie war und nie
sein würde – leider. Sie hob die Hand und
klingelte.
Nichts geschah; die Klingel blieb stumm.
Arved zuckte die Achseln. Er machte bereits Anstalten, sich
umdrehen, doch sie zupfte ihm am Ärmel. »Hier
geblieben!«, zischte sie. »Wir bringen es jetzt
hinter uns.« Sie klopfte, hämmerte mit der Faust gegen
die Tür und hielt
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