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Das Schattenbuch

Das Schattenbuch

Titel: Das Schattenbuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Siefener
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Sauer bedauert es, Ihnen nicht entgegengehen zu
können, doch er ist der Ansicht, dass Sie diesen Weg
genießen werden. Lassen Sie sich Zeit. Ich habe
überall das Licht eingeschaltet.« Damit zog er sich
leise zurück. Als er sich in die andere Richtung entfernte,
war nur noch ein fernes Quietschen und Knarren von ihm zu
hören, das schließlich ganz erstarb.
    Stille hüllte Lioba ein. Es war eine Stille, die beinahe
greifbar war. Irgendwo tickte leise eine Standuhr, die das
Schweigen nur noch dichter machte. Von der Straße war
genauso wenig zu hören wie von etwelchen Aktivitäten
innerhalb des Hauses. Lioba schloss die Tür hinter sich und
schaute sich um. Beinahe vergaß sie, warum sie hier
war.
    Die Wände waren bis zur hohen Decke mit Regalen und
Vitrinen verkleidet; zwei bis beinahe auf den Boden reichende
Fenster gaben hinter gerafften roten Damastvorhängen den
Blick auf einen Park frei, in dem sich bereits die Dämmerung
eingenistet hatte. Lioba ließ den Blick an den
Bücherreihen entlang gleiten. Es waren nicht ausnahmslos
okkulte Titel, sie fand auch eine Menge phantastische Literatur.
Es waren sogar Neuerscheinungen dabei, deren bunte Rücken
einen seltsamen Kontrast zu den alten, in Leder gebundenen
Bänden darstellten. Bücher von Kim Newman, Malte
Schulz-Sembten und Thomas Ligotti standen neben Werken über
Traumdeutung, Vorzeichen und Magie. Es waren schöne
Bücher, aber es waren nicht die, für die Abraham Sauers
Sammlung berühmt war.
    Nachdem Lioba sie oberflächlich betrachtet hatte,
verließ sie den großen Raum durch die
gegenüberliegende Tür und kam in einen kleinen,
ebenfalls von Bücherregalen gesäumten Korridor. Hier
befand sich Unterhaltungsliteratur, meist in billigen Ausgaben.
Einige Türen zweigten ab, aber sie waren verschlossen. Nur
die Tür am Ende des Korridors war nicht versperrt. Sie
führte in einen weiteren Büchersaal.
    Er glich dem ersten in Ausstattung und Lage; auch hier hatte
man einen Blick in den Park, der sich unter der herannahenden
Nacht auflöste. Erst jetzt wurde Lioba bewusst, wie
spät es schon war – viel zu spät für einen
Besuch bei einem Fremden. Doch der Diener hatte gesagt, Sauer
warte auf sie. Ihr Herz schlug schneller. Sie beeilte sich, zwang
sich dazu, keines der Bücher in diesem Raum anzuschauen, und
gelangte durch eine kleine Tür in der den Fenstern
gegenüberliegenden Wand zu einer Wendeltreppe, die sie nach
oben stieg; nach unten war sie durch einen halb mannshohen
Holzverschlag versperrt. Eine solche Treppe hätte man in
einer Burg erwartet, nicht aber in einer postmodernen
Stadtvilla.
    In regelmäßigen Abständen waren
Halogenstrahler in die runde Wand eingelassen und schufen aus
Licht und Schatten ein zweites, zweidimensionales Treppenhaus. Im
ersten Stock öffnete sich die Treppe in einen seltsamen,
halbrunden Raum, dessen Wände wiederum von Büchern
bedeckt waren und in dessen Mitte ein drehbarer
Bücherständer die Last alter Folianten trug. Ein
kleineres Fenster als im Erdgeschoss, auch hier mit dunkelroten
gerafften Damastvorhängen geschmückt, gab erneut den
Blick auf den Park frei, dessen Bäume mit dem Abendhimmel
verschmolzen.
    Auf dem Bücherständer lag ein in braunes Leder
gebundenes Buch, das Lioba sofort erkannte. Es erwartete sie. Es
war der Grund, warum sie hier war. Es hatte sie hergelockt. Sie
stürzte in den halbrunden Raum hinein – nur zwei
Schritte waren nötig – und nahm das Buch in die
Hand.
    Es war das Schattenbuch.
    Derselbe Einband, dieselbe Goldprägung auf dem
Rücken mit den fünf erhabenen Bünden. Mit
zitternden Fingern schlug Lioba es auf.
    Derselbe Titel, ein anderer Autorenname: Gerhard Spenster. Und
noch etwas war anders. Rasch blätterte sie das Buch durch.
Es handelte sich nur um eine einzige Geschichte, um einen
Kurzroman, und es war nicht illustriert. Lioba klappte es wieder
zu und steckte es sich unter den Arm. All die Räume, durch
die der Weg sie nun noch führte, waren für sie nicht
mehr von Interesse. Sie wollte nur noch mit Abraham Sauer
sprechen. Aber sie fand ihn nicht.
    Treppauf, treppab, Wendeltreppen, normale Treppen, Stufen hoch
und niedrig, kleine Zimmer, große Säle, eigentlich
viel zu groß für dieses Haus, oder lief sie im Kreis?
Irgendwann war sie wieder im Erdgeschoss. Draußen war es
inzwischen stockdunkel; sie sah sich selbst an den schwarzen
Fenstern vorbeihasten, ihre klobigen Stiefel hallten

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