Das Schattenbuch
einen schwarzen Mercedes
älteren Baujahrs, Halter ist ein gewisser Abraham Sauer. Wo
er wohnt, habe ich nicht herausbekommen können. Aber jetzt
schuldest du mir ein Essen.«
»Und eine Trockenbeerenauslese dazu«, freute sich
Lioba. »Ich danke dir von ganzem Herzen.«
»Viel Glück mit demselben und so weiter«,
meinte Jochen in seiner gewohnten Art und legte auf.
Und dann war da wieder diese andere Stimme.
Jetzt sagte sie nicht Liobas Namen. Jetzt waren es
zusammenhanglose Worte. »Schatten…
Vergangenheit… Schuld… Erkenntnis…«
Dann folgte so etwas wie ein leises, böses Lachen, und das
Besetztzeichen schallte plötzlich mit solcher Heftigkeit aus
der Muschel, dass Lioba, die angestrengt gelauscht hatte,
zusammenzuckte und den Hörer fallen ließ. Sie starrte
auf das baumelnde Teil, das wie ein Knochen an einer Sehne
wirkte, und legte es schließlich wieder auf die Gabel,
nicht aber, ohne vorher noch einmal hineinzuhorchen. Nichts, kein
Rüstern, kein Lachen, aber auch kein Besetztzeichen mehr.
Die Leitung war wieder tot. Lioba verließ das Haus. Sie
musste nachdenken.
Sie ging durch die Krahnenstraße stadteinwärts. Als
sie am Antiquariat Zaunmüller vorbeikam, warf sie
einen raschen Blick durch die großen Fensterscheiben. Sie
sah, wie der Antiquar Bücher aus einem Bananenkarton in die
Regale räumte. Ein Bild der Normalität, des Friedens,
des geregelten Verlaufs. Sie erinnerte sich daran, wie sie den
Karton mit geschenkten Büchern ausgepackt hatte, über
den Arved gestolpert war. Auch die verwirrenden Ereignisse, die
ihre Schatten über Liobas Leben legten, hatten in einer
solchen scheinbar alltäglichen, friedlichen, geregelten
Handlung ihren Ursprung genommen. Kurz überlegte sie, ob sie
ihrem stets freundlichen Kollegen einen Besuch abstatten und sich
so auf andere Gedanken bringen sollte. Sie wollte nicht über
Abraham Sauer nachdenken.
Über einen ihrer besten Kunden.
Nichts würde sie von den Gedanken an ihn ablenken.
Sie ging weiter, bis sie in die Fußgängerzone kam.
Es war ihr, als habe sich um sie herum eine Blase gebildet, durch
die der Lärm der Stadt gefiltert wurde. Lioba wünschte
sich, sie könnte mit jemandem reden. Ganz kurz kam ihr in
den Sinn, in die Riverisstraße zu fahren und Manfred zu
besuchen. Doch was sollte das bringen – nach der
verheerenden Begegnung vorhin?
Allmählich schlossen die Geschäfte; der Verkehr
dünnte aus, es waren immer weniger Leute auf der
Straße – als würden sie einer nach dem anderen
einfach aus dem Spiel genommen.
Lioba blieb vor der Buchhandlung Interbook am Kornmarkt
stehen. Die Tische mit den Ramsch-Angeboten waren hereingerollt,
die Türen verschlossen. In einer der Auslagen entdeckte sie
esoterische Bücher: Yoga, Kraft des positiven Denkens,
Mondmagie, Liebes- und Heilzauber. All das, was vor vierhundert
Jahren auf den Scheiterhaufen geführt hätte. Die
Menschen suchten, aber sie suchten an der falschen Stelle.
Lioba sah ihr Spiegelbild in der Scheibe der Buchhandlung,
genauso sah sie den frisch restaurierten, leuchtend weißen
und goldenen Brunnen auf dem Kornmarkt. Und sie sah die
Silhouette eines dürren Mannes rechts neben ihr. Es war
Vampyr, der Künstler.
Vampire haben kein Spiegelbild, war ihr erster,
verrückter Gedanke. Sie drehte sich nach rechts. Dort stand
niemand. Sie sah zurück in das Schaufenster. Das Spiegelbild
war wieder da, sie erkannte deutlich die dunkle Brille. Da erst
begriff sie, dass er in einiger Entfernung von der Scheibe in der
dunklen Tiefe des bereits geschlossenen Ladens stand. Er winkte
ihr zu, dann ging er zur Treppe, die sich an der hinteren Wand um
den Aufzug schlang, und stieg quälend langsam hoch. Sie sah
ihn nur noch als Schatten, der immer kleiner wurde, zwergenhaft
klein, bis er auf halbem Weg in den ersten Stock verschwunden
war.
Lioba rieb sich die Augen. Spiegelungen. Alles nur
Spiegelungen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Kurz nach acht.
Sollte sie sich noch auf den Weg zu Abraham Sauer machen? Sie war
noch nie bei ihm gewesen, aber sie hatte seine Adresse
natürlich in ihrer Kundenkartei. Sein Name war in
Antiquarskreisen geläufig, doch über ihn wusste kaum
jemand etwas. Es war nur bekannt, dass er Anwalt war – oder
gewesen war. Alles an ihm atmete Reichtum: die vorzügliche
Kleidung, die sündhaft teuren Schuhe, selbst seine
sorgfältige Frisur, die das wellige, grau-weiße Haar
so vorteilhaft zur
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