Das Schattenbuch
Unsinn, aber hier und da findet sich ein
vernünftiges Wort, ein vernünftiger Absatz, ein
vernünftiges Werk. Da alle denkbaren Kombinationen
existieren, gibt es unter den im wahrsten Sinne unzähligen
Büchern die Werke Shakespeares genauso wie alle anderen
schon geschriebenen und noch zu schreibenden Bücher. Und es
gibt das Buch, in dem die letzten Geheimnisse aufgezeichnet sind,
denn auch dieses ist eines der denkbaren und daher denknotwendig
existenten Werke. Gleichzeitig gibt es unendlich viele dieser
Bücher, denn für jeden Menschen auf der Welt wurde
eines geschrieben. Ob es mein Buch bereits gab, wusste ich bis
vor kurzem nicht. Jetzt weiß ich es. Es existiert. Sie
halten es gerade in der Hand.«
Lioba sah Sauer an und richtete dann den Blick wieder auf das
Buch.
Sauer fuhr fort: »Ich erhielt einen Anruf, man bestellte
mich in eine schlechte Gegend Triers, dort sollte ich auf
jemanden warten, der ein in braunes Leder gebundenes Buch unter
dem Arm trägt. Die Stimme war dumpf und unheimlich; sie
ängstigte mich. Ich überlegte lange, ob ich dieses
Abenteuer wagen sollte, aber meine Neugier trieb mich
schließlich dazu. Ich fuhr zu der angegebenen Stelle
– ich glaube, es war die Thyrsusstraße –, und
ein älterer, ungepflegt wirkender Mann wartete bereits am
Straßenrand vor einer Kneipe mit dem schönen Namen Zum grünen Baum auf mich. Ich hielt an, er stieg ein
und bedeutete mir loszufahren. Während der Fahrt nannte er
den Preis für das Buch. Er war ziemlich gering. Wir fuhren
nicht lange und befanden uns schließlich auf der
Herzogenbuscher Straße in Höhe des Friedhofes. Kurz
vor dem Haupteingang befahl er mir, ich solle anhalten und
bezahlen. Ich gab ihm das Geld, er stieg aus und ging in den
Friedhof hinein. Es war neun Uhr abends, und noch als ich im
Wagen saß und das Buch kurz durchblätterte, bemerkte
ich, wie die Tore des Friedhofes geschlossen wurden. Der alte
Mann war nicht wieder herausgekommen, doch sicherlich gibt es
noch einen zweiten Ausgang.«
»Wie sah dieser Mann aus?«, fragte Lioba.
»Er war sehr dünn, hatte graue Haare, einen grauen
Bart und stechende Augen. Außerdem roch er nicht
gut.«
»Hatte er die Haare zum Pferdeschwanz zusammengebunden?
Trug er eine Brille?«
»Beides nein.« Abraham Sauer lächelte Lioba
an. »Aber er hat noch etwas Seltsames gesagt.«
Lioba lehnte sich in das Polster des ausladenden Sessels und
hob die Brauen.
»Sie sind bezaubernd, wenn Sie neugierig oder unsicher
sind«, sagte Sauer, ohne sein Lächeln abzusetzen.
»Was hat er gesagt?«, beharrte sie. Es gefiel ihr
nicht, wie er sie ansah, und gleichzeitig gefiel es ihr doch. Sie
kannte diesen Blick; sie hatte ihn schon einmal an ihm
während einer seiner Besuche in der Krahnenstraße
wahrgenommen.
Unwillkürlich kam ihr Arved in den Sinn.
Unterschiedlicher konnten zwei Männer nicht sein. Dort der
verklemmte, allmählich und viel zu spät reifende
Ex-Priester, hier der Bonvivant, der Weltenkenner, der
Grandseigneur, den sich Lioba einfach unmöglich in einer
Situation vorstellen konnte, in der er nicht die Nerven behielt.
Dennoch umwebte ihn etwas Rätselhaftes, etwas Verzweifeltes.
Sie erwiderte sein Lächeln und fühlte sich
plötzlich so wohl wie lange nicht mehr. Es war, als komme
etwas Verschüttetes in ihr ans Tageslicht.
Sie wusste, dass Sauer in diesem Augenblick in ihr Innerstes
blickte.
»Er hat gesagt, in einiger Zeit werde jemand kommen und
nach dem Buch fragen. Ich solle bereitwillig Auskunft geben. Ich
hatte ja damals keine Ahnung, dass der Besuch, den er mir in
Aussicht stellte, so charmant und angenehm sein
würde.«
Lioba schlug die Augen nieder. Ihr Blick fiel auf das Buch in
ihrem Schoß. Ein dünner, grauhaariger Mann mit Bart.
Es hörte sich nach Vampyr an. Aber war er es wirklich
gewesen? Die Stimme passte nicht zu ihm, dieses Unheimliche,
Bedrohliche darin. Vampyr hatte mit hoher, schriller Stimme
gesprochen. »Worum geht es in diesem Buch?«, fragte
Lioba.
»Ich weiß es nicht.«
Lioba sah ihn mit großen Augen an. »Sie haben es
nicht gelesen?«
»Nennen Sie mich einen Narren, aber ich habe nicht den
Mut gehabt. Ich weiß nur, dass es sich um einen kurzen
Roman handelt, einen phantastischen Roman, in dem es um Spiegel
geht.«
»Um Spiegel?« Lioba erinnerte sich an einen
Spiegel – an eine der Illustrationen Vampyrs, die sie beim
oberflächlichen Durchblättern des Schattenbuches
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