Das Schattenbuch
bemerkt hatte. Gehörte sie wirklich in das andere
Schattenbuch, oder war sie möglicherweise für das
vorliegende Werk geschaffen und dann einfach dem anderen
beigegeben worden, aus Versehen oder mit Absicht? Es wurde immer
verwirrender. Sie schlug das Buch auf. Gleich der erste Satz
lautete: »Such mich im Spiegel, denn nur dort wirst du mich
finden. Im Spiegel ist mein ganzes Selbst, im Spiegel ist dein
ganzes Selbst.«
»Ich bin froh, dass Sie da sind«, sagte Abraham
Sauer. »Sie können das Buch gern mitnehmen. Ich
schenke es Ihnen.«
»Sie haben mit mir gespielt. Sie haben mich durch Ihr
Haus geleitet und alles so arrangiert, dass ich das Buch finden
muss.« Lioba wusste nicht, ob sie wütend oder
amüsiert sein sollte.
»Ja. Es war der einzige Weg.«
»Wieso?«
»Ich sagte Ihnen schon, dass es viele solcher
Bücher gibt. Sie tauchen in allen Jahrhunderten auf. Meist
sind es Berichte über schreckliche Ereignisse, die dann
Wirklichkeit – oder erneute Wirklichkeit – werden,
wenn der Richtige, das heißt derjenige, für den sie
aufgezeichnet wurden, sie liest. All diese Bücher sind
Spiegel eines früheren Lebens. Johannes Trithemius
erwähnt in seinen Annales Hirsaugienses den Fall
eines Mönchs, der eine Handschrift las, darin seine eigenen
Sünden erkannte und gerade noch rechtzeitig beichtete, als
schon der Teufel bereitstand, um ihn zu holen. Einen
ähnlichen Bericht gibt es bei Agrippa von Nettesheim. In
seiner Occulta Philosophia schreibt er, ein ihm bekannter
Adept der verborgenen Künste habe eine Handschrift erworben,
die angeblich die tiefsten Geheimnisse Gottes enthalte. Er las
sie begierig und war sehr enttäuscht, denn er fand darin nur
einen Fall, der einer eigenen Verfehlung, die er als junger Mann
begangen hatte, recht nahe kam, auch wenn er zuerst keine
Verbindung gesehen hatte. Ihn ereilte dasselbe Schicksal wie das,
von dem er zuvor gelesen hatte. Von Cagliostro erzählt man
sich eine ähnliche Geschichte. Charlotte Elisa Konstantia
von der Recke schreibt in ihrer Nachricht von des
berüchtigten Cagliostro Aufenthalte in Mitau, der
Erzzauberer habe dort von einem seltsamen fliegenden
Buchhändler einen Roman gekauft, der angeblich eine gar
erschröckliche Geschichte enthalte. Nachdem er sie gelesen
hatte, verbrannte er das Buch und suchte noch in derselben Nacht
den Beistand eines ortsansässigen Priesters.« Abraham
Sauer beugte sich vor. »In dieser Geschichte soll
übrigens ein Spiegel eine entscheidende Rolle gespielt
haben. Die Beispiele lassen sich noch fortsetzen. Oft haben die
Leser ihre Lektüre mit dem Tod bezahlen müssen, oder
sie sind einfach verschwunden. Noch am Ende des 19. Jahrhunderts
verstarb der – recht unbedeutende – Schriftsteller
Carl Julius von Leberan, nachdem er in einer Leihbibliothek auf
den Roman eines anonymen Sturm-und-Drang-Autors gestoßen
war und begeistert sowie sehr verstört davon seinem
Brieffreund Karl Hans Strobl schrieb. Ich kann Ihnen den Brief
zeigen, er ist in meinem Besitz. Leberan schrieb, er habe den
Roman seines Lebens und gleichzeitig den Roman seiner eigenen
Abgründe gefunden.«
Sauer lehnte sich wieder zurück. Plötzlich sah er
unglaublich müde und verbraucht aus. »Ich habe kein
okkultes Werk gesucht, in dem ich Aufschluss über die
letzten Dinge zu finden hoffte. Es war mein Roman, hinter dem ich
hergejagt bin. Alle Werke des Übersinnlichen und
Übernatürlichen dienten lediglich dazu, mich auf die
Spur dieses Buches zu setzen. Jetzt, da ich es gefunden habe,
muss ich feststellen, dass ich mich nicht traue, es zu studieren.
In allen Fällen, die mir bekannt sind, haben die Opfer das
Buch vorher gelesen. Manche behaupteten, die tiefste Weisheit
darin gefunden zu haben, andere scheinen gar nicht begriffen zu
haben, was sie da lasen. Ich war mir sicher, dass ich es wagen
würde, das Buch zu lesen, wenn ich es habe, aber ich habe
mich in mir selbst getäuscht.«
Lioba schaute mit Abscheu auf den Band in ihrem Schoß.
Und sie dachte an das Werk, das sie Arved geschenkt hatte. Er
hatte es gelesen, sie hingegen nicht. War an dem, was Abraham
Sauer da behauptete, etwas Wahres? Sie konnte es nicht glauben.
»Ist bekannt, wer die jeweiligen Autoren waren?«,
fragte sie leise.
»Manche Bücher waren anonym, manche pseudonym. In
keinem Fall ließ sich der Autor zweifelsfrei
ermitteln.«
»Carnacki ist ebenfalls ein Pseudonym.«
Abraham Sauer nickte. »Genau
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