Das Schattenbuch
über
das Parkett und den Steinfußboden zwischen den
Perserteppichen, sie sah im Spiegel der Fenster wie ein Gespenst
aus. Dann, unvermittelt, traf sie auf Abraham Sauer. Er saß
in einem tiefen Armlehnsessel vor einem erloschenen Kaminfeuer,
dessen Brandgeruch jedoch noch in der Luft schwebte.
Seltsam, dachte Lioba, die mit dem Buch unter dem Arm in der
Tür stehen blieb, wann war es zuletzt so kalt, dass man den
Kamin hätte befeuern müssen?
»Ich freue mich über Ihren Besuch, Lioba
Heiligmann«, sagte Sauer und lehnte sich in seinem Sessel
vor. Er hatte die grau-weißen Haare
zurückgekämmt, trug einen roten Morgenmantel aus Seide,
die im Licht der Deckenlampe sanft glänzte, und deutete mit
den schlanken, unglaublich langen Fingern auf den Sessel ihm
gegenüber. »Setzen Sie sich und sagen Sie mir, warum
Sie mir so unverhofft den Abend verschönern.«
Obwohl Lioba normalerweise um keine Antwort verlegen war,
fühlte sie sich in der Gegenwart dieses Mannes wie ein
ertapptes Schulmädchen. So war es schon damals bei ihrem
ersten Treffen in der Krahnenstraße gewesen, doch da hatte
sich Lioba auf eigenem Territorium befunden. Jetzt fühlte
sie sich wie ein Eindringling in den Gemächern eines
mythischen Königs, wie eine Diebin, die von ihrem Herrn zum
Tee gebeten wird. Sie setzte sich und hielt das Buch auf den
Knien.
»Ich sehe, Sie haben sich mit Lesestoff versorgt«,
meinte Sauer und lächelte sie an.
In der Tat, dachte sie, Pierce Brosnan mit
fünfundsechzig.
»Aber bestimmt möchten Sie mehr von mir, als nur
meine Bibliothek benutzen.«
Lioba entschuldigte sich, das Schattenbuch genommen zu haben,
und hielt es hoch. »Deswegen bin ich hier. Das heißt,
nicht wegen dieses Buches, von dessen Existenz ich bis vorhin gar
nichts wusste, sondern wegen des Exemplars, das sich in meinem
Besitz befunden hat. Es trägt denselben Titel, aber einen
anderen Autorenamen: Thomas Carnacki.«
»Das ist seltsam«, sagte Sauer leise und
nachdenklich, aber keineswegs überrascht.
»Sie kennen ihn.« Es war eine Feststellung.
Sauer sah Lioba offen an. In den Tiefen seiner blauen Augen,
die plötzlich sehr müde aussahen, funkelte es.
»Vielleicht.«
»Können Sie mir etwas über ihn
sagen?«
»Was wollen Sie hören?«
»Kennen Sie seinen Wohnort? Hat er noch weitere
Bücher geschrieben?«
»Seit wann sind Sie auf Literatur
spezialisiert?«
»Ich hatte das Schattenbuch im Angebot. Ein neuer Kunde
von mir hat es genommen und wünscht weitere Informationen
über Autor und Werk.« Sie hielt das Buch hoch und
betrachtete es zweifelnd. »Seine Ausgabe ist mit dieser
hier nicht identisch.«
»Das glaube ich gem.« Sauer lehnte sich wieder
zurück und schlug die Beine übereinander. Der
Morgenmantel schwang ein wenig auf, der nicht minder seidige
dunkelblaue Stoff der Hose kam zum Vorschein. Die Schuhe, die
Sauer trug, waren italienische Maßarbeit, wie Lioba mit
gewisser Bewunderung erkannte, und kosteten so viel, wie eine
Krankenschwester im Monat verdiente.
»Ich habe das Buch lange gesucht, ohne eigentlich
wirklich zu wissen, was ich suchte«, erklärte Sauer
und massierte sich das zarte Kinn mit Daumen und Zeigefinger.
»Sie wissen, dass ich auf der Suche nach der letzten
Wahrheit war.«
»War?«, fragte Lioba.
Sauer deutete auf das Buch in ihren Händen. »Ich
fürchte, ich bin fündig geworden. Ich muss gestehen,
dass ich nur selten verblüfft werde, aber vor ein paar
Monaten ist es geschehen. Es war kurz nach meinem letzten Besuch
bei Ihnen.« Er legte die langen, spitzen Finger zu einem
Dach unter dem Kinn zusammen und sah Lioba amüsiert an.
»Der Verkäufer des Schattenbuches muss seine
Informanten gehabt und gewusst haben, dass ich stets auf der
Suche nach jenem Buch war, das mir die Geheimnisse des Seins
entschlüsselt. Die Geheimnisse des Seins sind die
Geheimnisse des Selbst.« Sauer verstummte und sah an Lioba
vorbei aus dem Fenster, in dem sich der Raum spiegelte. Dann
redete er weiter. »Ich habe gesucht, obwohl ich annahm,
dass ich letztlich nicht finden würde. Meine Lage war noch
verzweifelter als die des Suchenden in Borges Bibliothek von
Babel, der genau weiß, dass das Buch aller Bücher
irgendwo existieren muss, weil das Universum, in dem er sich
befindet, nur aus wabenartigen, mit Büchern angefüllten
Räumen besteht, und diese Bücher enthalten alle
möglichen Buchstabenkombinationen. Natürlich ist das
meiste davon
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